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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief
Autoren: Susan Abulhawa
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war. Und ich war dabei, als er deine Großmutter Dalia heiratete. Ich kann dir sogar von deinen Urgroßeltern Haj Yahya und Haja Basima
berichten. Wenn du magst, fahren wir zusammen nach Ein Hod, und ich zeige dir den Ort deiner Herkunft. Ich war nicht mehr dort, seit ich ein Junge war. Es wird bestimmt sehr emotional, mit Hasans Enkeltochter dorthin zurückzukehren, ganz sicher. Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du mitkämst. Deinen Großvater Hasan würde das auch freuen, wo immer er ist. Ich stehe in seiner Schuld.«
    Geschichten aus Jenin drangen langsam in die umliegenden Dörfer vor. Der Anblick eines Jungen, der von einem eisernen Mast baumelte, mit Stirn- und Armbändern, die ihn als Kämpfer auswiesen. Die Geschichte eines alten Mannes, eines hundertjährigen Haj, der in seinem eigenen Haus von einem Bulldozer zu Tode gequetscht wurde. Das Schicksal einer palästinensischen Amrikiyya, die getötet wurde, weil sie ihre Tochter beschützen wollte. Diese Frau hatte als Kind eine israelische Kugel überlebt und war nun durch eine zu Tode gekommen, die ihrem Kind gegolten hatte. Diese Geschichte wurde nah und fern verbreitet. Sie brachte Muna Jalayta dazu, tränenerstickt bei den kolumbianischen Schwestern anzurufen: »Amal wurde in Jenin getötet.« Die Geschichte reiste über den Ozean und sandte tiefen Schmerz in das Herz Elizabeths, die an der Schulter ihres Mannes weinte – um die Frau, der sie geholfen und die sie lieb gewonnen hatten, mitsamt ihrer Tochter. Angela Haddad und Bo Bo trauerten um eine alte Freundin. Aber auch diese Geschichte verblasste bald.
    Als Israel das Lager endlich öffnete, schickten die Vereinten Nationen niemanden. Die amerikanischen Kongressabgeordneten, die gerne die Schauplätze der Selbstmordattentate besichtigen und ewige Treue zu Israel schwören, kamen auch nicht. In Jenin wurden dreiundfünfzig Leichen in einem Massengrab
beerdigt. Amal war darunter, aber Hunderte galten weiterhin als vermisst.
    Der offizielle Bericht der Vereinten Nationen, geschrieben von Menschen, die niemals in Jenin gewesen waren und weder mit den Opfern noch mit den Tätern gesprochen hatten, kam zu dem Schluss, dass sich kein Massaker ereignet hatte. Dieser Meinung schlossen sich die amerikanischen Zeitungen an und titelten: »KEIN MASSAKER IN JENIN« und »LAUT ISRAEL NUR KÄMPFER IN JENIN GETÖTET«.
    Sie haben dich getötet und in ihren Schlagzeilen begraben, Mutter. Wie kann ich vergeben, Mutter? Wie kann Jenin vergessen? Wie kann man diese Last nur tragen? Wie kann man in einer Welt leben, die sich schon so lange von derartiger Ungerechtigkeit abwendet? Ist das gemeint, wenn man davon spricht, ein Palästinenser zu sein, Mutter?
    Um Saras Herz hat sich ein stummer Schrei gebildet, wie ein Nebel. Darin finden sich weder Worte noch eine Erklärung. Manchmal glaubt sie, das ist der Drang, die Dinge richtigzustellen. Manchmal fühlt es sich auch wie Zorn an. Aber im Schatten der Einsamkeit spürt sie ein wortloses Flüstern tief in ihrem Inneren, eine unendliche Sehnsucht, nur noch einen einzigen Augenblick mit Amal verbringen zu dürfen, um auf ihre letzten Worte zu antworten: »Ich liebe dich auch.«

46
Geschöpfe Gottes
    2002 – 2003
    A ri hielt sein Versprechen und fuhr einige Wochen später mit Sara nach Ein Hod. Die beiden luden David ein, sie zu begleiten, und so spazierten sie zu dritt durch das Dorf. Ein paar Künstler, hauptsächlich französische Juden, arbeiteten unter freiem Himmel an ihren Landschaftsbildern, und die Bewohner schlenderten in Shorts und Sommerkleidern umher. »Das ist das Haus deiner Familie«, sagte Ari und zeigte auf ein prächtiges Steinhaus mit einem wunderschönen Garten und Obstbäumen.
    »Können wir hinein?«, wollte Sara wissen.
    »Wir können fragen«, erwiderte Ari und klopfte an.
    Eine hübsche jüdische Frau Anfang dreißig erschien an der Tür. Als sie begriff, dass die Fremden Palästinenser waren, die nach der Vergangenheit suchten, verwehrte sie ihnen den Eintritt.
    »Ich weiß schon, weshalb Sie kommen. Sie müssen begreifen, dass dies jetzt unser Zuhause ist.« Sie betonte das Wort »unser«. »Außerdem schläft mein Baby gerade.« Damit schloss sie die Tür, und die verhinderten Gäste gingen.

    Sara fotografierte die Ställe, wo einst Ganush und Fatuma gelebt hatten. Sie hatte ihrem Großonkel Darwish versprochen, diesen Ort zu besuchen, mit dem seine schönsten Erinnerungen verbunden waren. Drei seiner Söhne, Amals Cousins, waren
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