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Im Land des weiten Himmels

Im Land des weiten Himmels

Titel: Im Land des weiten Himmels
Autoren: J Wolfe
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    »Hannah! Wo bleibst du denn?« Henry Smith, der deutschstämmige Besitzer von »Henry’s Café«, stand mit hochrotem Gesicht in der Küche, eine karierte Schürze vor dem respektablen Bauch und mit drei Töpfen gleichzeitig hantierend. Er füllte vier bereitstehende Teller und blickte seine neue Bedienung vorwurfsvoll an. »Das Lokal ist bis auf den letzten Platz besetzt, und du schläfst im Gehen ein.« Er deutete auf die Teller. »Tisch vier, aber heute noch!«
    Hannah Stocker griff wortlos nach den Tellern und balancierte sie zu dem Tisch mit den beiden Ehepaaren. Die Eigentümer des Kramerladens gegenüber und ein Fabrikant, der trotz der Prohibition einen stattlichen Bierbauch hatte. Seine Frau trug, obwohl sie alles andere als schöne Beine hatte, eines dieser modischen Kleider, die knapp über dem Knie endeten. »Viermal Rinderbraten mit Kartoffeln und grünen Bohnen«, sagte Hannah, als sie die Teller verteilte. Sie vermied es, die Gäste anzulächeln, obwohl ihr Chef das ausdrücklich verlangte. Sie gab sich lieber sachlich, aus Angst, mit ihrer erschöpften Miene und ihren müden Augen nur ein klägliches Grinsen hinzubekommen, das die Gäste abstoßen würde.
    Auf dem Rückweg in die Küche blieb sie in dem schwach beleuchteten Gang hinter der Schwingtür stehen, ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand sinken und verbarg ihr Gesicht in beiden Händen. Sie war hundemüde, hatte seit fünf Wochen kaum ein Auge zugetan und bis zur Erschöpfung gearbeitet, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Das Leben in New York war teuer, auch wenn man abseits der Fifth Avenue wohnte. Tagsüber arbeitete sie in der Nähfabrik, wo ihre Mutter angestellt gewesen war, und abends lief sie sich hier in Henry’s Café die Füße wund. Henry Smith hieß eigentlich Heinrich Schmidt, kam aus derselben Gegend in Württemberg wie sie und hatte seinen Namen 1917 während des Großen Krieges geändert, als die deutschen Einwanderer so verhasst gewesen waren, dass man sogar zum Boykott gegen sie aufgerufen hatte.
    Die zwei Jobs zehrten an ihren Kräften. Seit ihre Mutter gestorben war, bestand das Leben für Hannah nur noch aus Arbeit, und ihr blieb keine Zeit für dessen angenehme Seiten, an einen netten Mann, an ein Rendezvous bei Kerzenschein, zu dem der Betreffende mit Blumen für sie erschien, war nicht zu denken. Besonders während der ersten Wochen, als sie noch frisch und unverbraucht ausgesehen, ihre blauen Augen noch gestrahlt und ihre honigblonden Haare noch geglänzt hatten, war sie von mehreren Männern angesprochen worden. Wie gut das getan hatte! Mit den meisten wäre sie sowieso nie ausgegangen, aber ein junger Maler, der ihr sogar angeboten hatte, sie auf Leinwand zu verewigen, hatte ihr gefallen. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr fahles Gesicht, als sie an den jungen Mann dachte. Ob er von seinen Bildern und Porträts leben konnte?
    »Hannah? Bist du da draußen? Wo bleibst du denn?«
    »Ich komme. Bin schon unterwegs.«
    Sie stieß sich seufzend von der Wand ab und ging in die Küche. Nervös blinzelte sie in das blendend helle Licht, das von der Decke schien. Es dauerte eine Weile, bis man sich an das elektrische Licht gewöhnt hatte. In der Nähfabrik hatten sie Gaslampen, und zu Hause stand eine Kerosinlampe auf ihrem Tisch.
    »Die Rippchen für Tisch zwei, nun mach schon!« Henry Smith wischte sich mit einem Lappen den Schweiß von der Stirn. »Wenn die Leute kein Bier und keinen Wein mehr trinken dürfen, sollen sie wenigstens ihr Essen bekommen, solange es heiß ist.« Er kehrte zum Herd zurück und rührte im Topf mit dem Bohnengemüse. »Und schlaf unterwegs nicht ein!«
    Mühsam bahnte sie sich einen Weg zwischen den eng beieinanderstehenden Tischen hindurch. Die Gäste warteten bereits ungeduldig.
    »Na, endlich«, knurrte ein älterer Mann sie an. »Ich dachte schon, ich müsste verhungern. Hoffentlich schmecken die Rippchen. Teuer genug sind sie ja. Für den Preis hab ich vor einigen Jahren noch zwei Portionen bekommen.«
    Seine Frau war solche Reaktionen anscheinend gewöhnt. »Machen Sie sich nichts draus, Miss. Seit er kein Bier mehr zum Essen bekommt, ist er immer so schlecht gelaunt.« Sie legte eine Hand auf den Arm ihres Mannes. »Bringen Sie uns noch zwei Gläser von der roten Limonade, Miss. Johannisbeere?«
    »Cranberry und Zitrone«, verbesserte Hannah. Sie war mit ihren Gedanken woanders. Seit die Regierung vor ein paar Jahren das Alkoholverbot erlassen hatte, waren die
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