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Vulkanpark

Vulkanpark

Titel: Vulkanpark
Autoren: Gabriele Keiser
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zuckte der Sohn zusammen. Diese Bewegung
löste noch immer Alarm in ihm aus: Er ertappte sich dabei, wie er sofort den
Arm hochriss, um seinen Kopf zu schützen. Gleichzeitig brachen blitzartig
Gefühle und Gedanken aus den Tiefen seines Unterbewusstseins hervor, von denen
er geglaubt hatte, dass er sie längst hinter sich gelassen hatte.
    Schnell
ließ er den Arm wieder sinken.
    Es war
zu lächerlich. Der Alte konnte nicht mehr schlagen. Dazu hatte er keine Kraft
mehr. Abgesehen davon, dass die Distanz zwischen Vater und Sohn keine Berührung
welcher Art auch immer zuließ.
    Sein
Vater war 98 Jahre alt. Hatte man da nicht lange genug gelebt? Und genug Unheil
angerichtet?
    Die
alte Hand, deren Haut dünn war wie Pergament und von zahlreichen Altersflecken
bedeckt, zitterte. Der Greis beugte sich vor, er versuchte, etwas zu
artikulieren.
    Wieder
fiel dem Sohn der Vergleich mit den präparierten Tieren ein. Ein Fuchs mit
rötlichem Fell und Augen aus Glas, ein Habicht mit ausgebreiteten Flügeln, der
in seinen Krallen ein lebloses Kaninchen trug. Wesen, die tot waren, die jedoch
durch spezielle Verfahren den Anschein erweckten, ewig zu den Lebenden zu
gehören. Der Unterschied lag allein in den Augen. Während die der gejagten
Tiere gläsern und leer gewesen waren, leuchtete aus den wässrigen Augen des
Vaters Panik.
    Der
Alte hat Angst, schoss es dem Sohn durch den Kopf. Sieh mal einer an. Seinen
Mund umspielte ein Lächeln.
    »Hast
du Durst, Vater? Soll ich dir was zu trinken holen?«, fragte er höflich.
    Eine
unwirsche Bewegung mit der Hand. Begleitet von einem heftigen Kopfschütteln.
    »Schlecht … «,
verstand der Sohn, »… ganz schlecht.«
    »Was
ist ganz schlecht, Vater?«
    »Alles … will
nicht mehr.«
    Schrill
und hoch drangen die Töne aus der dunklen Höhle des zahnlosen Mundes. Unartikuliert.
Begleitet von Speicheltropfen und einem Pfeifen und Schnaufen. Wie bei einem
Trinker. Einem Menschen, der nicht bei sich war, der nicht mehr kontrollieren
konnte, was er von sich gab.
    »Was
meinst du?« Der Sohn kniff die Augen zusammen, in seinem Hinterkopf begann es
zu klopfen. Er war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. »Was willst du
mir sagen, Vater?«
    Er
dachte daran, wie er als Kind in Vaters Arbeitszimmer zitiert wurde, einen
düsteren Raum mit zahlreichen Büchern in Glasvitrinen, den sämtliche
Familienmitglieder nur nach Aufforderung betreten durften. Zuvor ging es durch
den langen Flur mit den Geweihen an der Wand. Sein Vater war stets effektiv im
Sammeln von Trophäen gewesen. Beim Schießen und beim Schlagen bewies er eine
sichere Hand.
    Vom
Sohn wurde erwartet, dass er nach dem Eintreten einen Diener machte. Vater war
ein Herr der alten Schule, der auf Manieren achtete. Wenn der Sohn etwas
besonders gut gemacht hatte, durfte er sich eines der Himbeerbonbons nehmen,
die rosarot und verführerisch in einem Glas auf dem Schreibtisch standen.
    Hatte
er jemals ein Bonbon bekommen? Er konnte sich nur daran erinnern, dass er sich
einige Male heimlich in das Büro geschlichen hatte, um eines zu stehlen.
    »Mach … tot«,
krächzte der Alte.
    »Bitte?«
Sein Herz begann zu hämmern. Er hielt die Hand hinter sein Ohr. So wie es Vater
immer gemacht hatte, wenn er glaubte, sich verhört zu haben.
    »Mach
tot … weg … aus … vorbei.« Der Alte wedelte mit den Händen. Wieder fühlte sich
der Sohn an früher erinnert, an das ungeduldige Fuchteln, das ein endgültiges
Schneiden durch die Luft abschloss. Begleitet von einem gezischten »Basta!«,
dem niemand zu widersprechen wagte.
    Der
Mann, der ihn gezeugt hatte, bettelte darum, umgebracht zu werden? War es das?
Hatte er das richtig verstanden?
    »Vater,
ich glaube, es ist besser, du legst dich wieder hin. Ich gehe jetzt.«
    Unruhe
erfasste den alten Mann, er versuchte, den Sohn aufzuhalten. Mit
unartikulierten Worten, mit heftigen Gesten.
    Nun
stellte sich doch so etwas wie ein Triumphgefühl bei ihm ein. Wie er es genoss,
bestimmen zu können! Keinem väterlichen Befehl mehr gehorchen zu müssen. Er
drehte seinem Vater den Rücken zu und fasste entschlossen an die Türklinke,
ignorierte das verzweifelte Gebrabbel, das ihn zum Bleiben verurteilen wollte.
    Ein
Lächeln umspielte seine Lippen, als er die Tür hinter sich zuzog.

1
     
    Schützt uns dieser Staat
noch vor Verbrechern? Die Überschrift des Artikels stach gut sichtbar ins Auge. Die
überregionale Ausgabe einer bekannten Tageszeitung lag aufgeschlagen in der
Mitte des Tisches. Aus
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