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Vulkanpark

Vulkanpark

Titel: Vulkanpark
Autoren: Gabriele Keiser
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Prolog
     
    Er hatte geglaubt, der Alte sei
längst tot. Umso erstaunter war er über den Anruf aus dem Pflegeheim gewesen.
Er sortierte die Bilder in seinem Kopf und versuchte, sie mit den Gegebenheiten
in Übereinstimmung zu bringen, die er vor sich sah, und begann sich zu fragen,
weshalb in drei Teufels Namen er bloß hierhergekommen war. In dieses Zimmer, wo
es nach Desinfektionsmitteln und Siechtum roch.
    Vater
befiehlt und der Sohn gehorcht. Die alten Mechanismen schienen noch immer zu
funktionieren, nach so langer Zeit. Hatte sich wirklich gar nichts verändert?
    Der
Greis schaute mit starrem Blick an ihm vorbei. In sich zusammengefallen, hing
er mehr als er saß im Rollstuhl. Unter dem zerschlissenen Frottee-Bademantel
trug er einen gestreiften Pyjama. Zahlreiche geplatzte Äderchen durchzogen wie
ein rotmaschiges Netz sein ledriges, von vielen Falten schraffiertes Gesicht.
Sein kahler Kopf sah aus wie ein verschrumpelter, von braunen Flecken
verunzierter und vergessener Apfel, den niemand mehr haben wollte. Er trug kein
Gebiss. Sein Mund war eingefallen, eine tiefe, unergründliche Höhle.
    Nichts
hatte er mehr gemein mit dem Vater, der einmal stark und mächtig gewesen war.
Viel eher erinnerte er den Sohn an eines der präparierten Tiere im
Arbeitszimmer, die ihn fasziniert und zugleich abgestoßen hatten.
    Eigentlich
sieht er völlig harmlos aus, dachte der Sohn verwundert. Aufrecht stand er vor
dem alten Mann und sah auf ihn herab. Er hätte sich auf einen Stuhl setzen
können, um seinem Vater in Augenhöhe zu begegnen, aber das tat er nicht. Er
blieb stehen.
    Ein
Bild hatte sich in sein Gehirn eingebrannt, das nicht mehr auszulöschen war: Er
war derjenige, der saß – zusammengekauert auf einem Kinderstühlchen – und
sein Vater stand vor ihm. Groß, erhaben, drohend. Der Vater fragte Wissen ab.
Das kleine Einmaleins. Abziehen. Zusammenzählen. Erbarmungslos prasselten
Aufgaben und Kommentare auf das Kind nieder.
    Sieben
mal neun. Herrgott, das ist doch nicht so schwer … Wo hast du bloß deine
Gedanken? Wird’s bald?
    Aus
Vaters Mund hagelten weitere Zahlen. Die Stimme wurde immer schriller und
blockierte alle Gedankengänge. Der Sohn, das Kind, suchte verzweifelt nach
Antworten. Er wollte so gern dem Vater gefallen. Dafür hatte er stundenlang
geübt. Aber alles, was er vorher gewusst hatte, war wie weggeblasen. Hilflos
bewegte er die Lippen, nicht die einfachste Lösung fiel ihm ein. Darüber war er
genauso frustriert gewesen wie sein Vater.
    Am
liebsten hätte er seinen Vater jetzt gefragt: 98 minus 45. Na, was ist? Wo
hast du bloß deine Gedanken? Wie fühlt man sich, wenn der andere groß und
mächtig vor einem steht, und man selbst so hilflos ist wie ein kleiner Junge
auf einem Kinderstühlchen?
    Natürlich
beherrschte er sich, wie er sich immer in Gegenwart seines Vaters beherrscht
hatte, eines Mannes, der kaum Fragen stellte, sondern gewohnt war, Ansagen zu
machen oder Befehle zu erteilen. Bravsein war die Maxime seiner Erziehung
gewesen. Ein gutes Kind gehorcht geschwind . Ein stiller Duckmäuser war
erwünscht. Kein Kind, das herumzappelte, und schon gar keines, das in der Lage
war, selbstständig zu denken und dies in irgendeiner Weise auch noch zu äußern.
    Kurz
dachte der Sohn an seine Mutter, die in ihrer eigenen Welt gelebt hatte, einer
Parallelwelt, die mit der Realität nur wenig übereinstimmte. Für die Sorgen des
Kindes hatte sie kein Gespür gehabt. Vielleicht, weil ihre eigenen Nöte so
übergroß gewesen waren, dass sie sie wegzuträumen und mit Medikamenten
wegzuschlucken versuchte.
    Im
Grunde war das hier alles nur armselig.
    Plötzlich
fragte er sich, warum er sich nicht erhaben vorkam, wie er da vor seinem Vater
stand und auf ihn herabblickte, groß, aufrecht, gesund. Warum dieses Gefühl von
Macht und Triumph ausblieb. Flau war ihm im Magen, im Kopf. Ob seinem Vater
jemals in den Sinn gekommen war, dass er etwas falsch gemacht hatte? Ob er sich
jemals darüber Gedanken gemacht hatte, dass die Dinge nicht einfach passierten,
sondern dass es für alles einen Grund gab?
    Der
alte Mann wandte den Kopf und suchte den Blick des Sohnes, ein Speichelfaden
troff aus seinem Mund, vor dem sich der jüngere ekelte. Er musste sich zwingen,
diesem Anblick standzuhalten.
    Zusammenhängend
sprechen konnte der Vater nach dem Schlaganfall nicht mehr. Bestenfalls lallen.
Zittrig bewegte er die welken Lippen. Auf einmal kam Bewegung in ihn, mit einem
Ruck hob er eine Hand. Unwillkürlich
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