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Vulkanpark

Vulkanpark

Titel: Vulkanpark
Autoren: Gabriele Keiser
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dir nichts vorzuwerfen«, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild. Dann war sie
bereit und ging zurück in den Gerichtssaal.

62
     
    Jeder der einzelnen
Verhandlungstage enthüllte ein wenig mehr von Benjamin Jacobs’ komplizierter
Persönlichkeit, jedoch ergab nichts davon ein geschlossenes Bild. Immer
bizarrer schien es, dass gerade er, der sympathische Freund, der hilfsbereite
Rettungssanitäter, der Frauenheld, die ihm vorgeworfenen Taten begangen haben
sollte.
    Umso
dringlicher wurde die Aussage des Sachverständigen, des Psychiaters Professor
Hermann Martin, erwartet. Er sollte insbesondere erhellen, was in Benjamin
Jacobs vorgegangen war, als er an jenem Abend des 15. Juli mit einem
gestohlenen Wagen umherfuhr, um schließlich absichtlich in der Dämmerung mit
einem kleinen Jungen auf seinem Fahrrad an einer einsamen Stelle zu
kollidieren.
    Professor
Martin war eine imposante Persönlichkeit. Man hatte den Eindruck, ein Riese
beträte den Raum. Seine Stimme war wie Donnerhall, der mit seiner Größe und
Körperfülle korrespondierte. Sein weißer Vollbart war sorgfältig gestutzt.
Seine Gesten weit ausholend.
    Vordergründig
sei Benjamin Jacobs während der Exploration freundlich und höflich gewesen,
erläuterte der Sachverständige, aber er habe sich vehement gegen einige der
psychodiagnostischen Tests gewehrt. »Was meine Aufgabe nicht eben leicht
machte.«
    Zunächst
bezog sich der Professor auf die Kindheit des Angeklagten. »Bei Benjamin Jacobs
wurde ein frühkindlicher Hirnschaden festgestellt. Ausgelöst wahrscheinlich
durch perinatalen Sauerstoffmangel, den er als zweitgeborener Zwilling erlitt«,
referierte er. »Die Vermutung liegt nahe, dass das Kind in einem frühen
Entwicklungsstadium zwar nicht gerade aus der Bahn geworfen, aber vielleicht in
eine parallele, also andere Spur verrückt wurde.«
    Der
Gutachter sprach, als ob er vor Studenten doziere, mit weit ausholenden
Handbewegungen und vollem Körpereinsatz.
    Hoffentlich
läuft das nicht auf eine verminderte Schuldfähigkeit oder gar Schuldunfähigkeit
hinaus, dachte Franca.
    »Kinder
wie Benjamin Schaller, wie er damals hieß, sind zwar normal intelligent, jedoch
ist bei ihnen eine Entwicklungsverzögerung zu beobachten, verbunden mit einem
erhöhten Bewegungsdrang und schlecht zu bändigender Unruhe. Der Junge war
hyperaktiv, ein sogenannter Zappelphilipp, der sich schlecht konzentrieren
konnte. Dennoch wurde er sowohl zu Hause als auch in der Schule behandelt wie
alle anderen, nämlich seinem Alter entsprechend. Erschwerend kam hinzu, dass es
immer diesen Gegenpart des Zwillingsbruders gab, den man ihm als Vorbild
hinstellte. Äußerlich glichen sich die beiden Jungs wie das sprichwörtliche
eine Ei dem anderen. Sie trugen identische Kleidung, folglich wurden sie oft
miteinander verwechselt. Ein Identitätskonflikt zweifellos, unter dem der
Angeklagte zusätzlich litt, was sich deutlich ausprägte, als er in die Pubertät
kam.« Mit bedeutungsvollem Blick sah er um sich. »Ihnen allen dürfte bekannt
sein, dass dies die verwundbarste aller Lebensphasen ist, mit ihrer Suche nach
Identität und Lebenssinn. Durch auffälliges Benehmen versuchte er sich bewusst
von seinem Bruder abzugrenzen. Er träumte davon, stark zu sein und bewundert zu
werden und spann sich entsprechende Visionen zurecht.« Der Professor hielt
einen Moment inne, bevor er fortfuhr: »Wahrscheinlich haben sich in dieser Zeit
sadistische Fantasien ausgebildet, die ihren vorläufigen Höhepunkt im
Missbrauchsversuch an einem gleichaltrigen Mädchen fanden, als Benjamin 13
Jahre alt war.«
    Durch
die Reihen ging ein Raunen.
    »Als
man ihn zur Rede stellte, behauptete er, nicht er sei der Übeltäter gewesen,
sondern sein Bruder Michael. Ein Täuschungsmanöver, das von allen Beteiligten
durchschaut wurde. Als Folge dieses Verhaltens wurden die Zwillinge getrennt.
Benjamin kam in Fürsorgeerziehung, und Michael blieb zu Hause. Die Familie hat
sich von Benjamin losgesagt. Besonders der Vater wollte mit diesem Sohn nichts
mehr zu tun haben. Eine wahrscheinlich fatale Entscheidung, die dazu
beigetragen hat, den ohnehin nicht gefestigten Jungen noch mehr zu
verunsichern. Seine sadistischen Fantasien haben sich im Heim verstärkt. Um
sich abzureagieren, attackierte er jüngere, schwächere Kinder, die ihm nicht
gewachsen waren.«
    Franca
hörte den Ausführungen des Psychiaters atemlos zu. Vor ihren Augen entstand
abwechselnd ein Kind, das sich selbst fremd war, das in seiner
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