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Vulkanpark

Vulkanpark

Titel: Vulkanpark
Autoren: Gabriele Keiser
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grenzenlosen
Einsamkeit im Heimbett die Nächte durchweinte. Das nicht wusste, wohin mit
seiner Wut und seiner Enttäuschung. Das Zärtlichkeit suchte und sie
gleichzeitig zurückwies. Aus dem verstörten Jugendlichen wurde ein junger
Erwachsener, der Zuflucht in einer zu früh geschlossenen Ehe suchte. Der
versuchte, sich zu zähmen und seinen Schmerz zu überwinden. Der entdeckte, dass
er Erfolg bei Frauen hatte, wenn er sich in einer bestimmten Weise verhielt,
und Gefallen daran fand. Vielleicht weil dies seinem verletzten Ego äußerst gut
tat. Doch in seinem Inneren hörte es nicht auf zu brodeln.
    Wie
schon so oft in der letzten Zeit war Franca froh, Benjamin aus sicherer Distanz
betrachten zu können. Seine Körpersprache drückte nicht aus, dass ihn die
Ausführungen des Psychiaters überraschten. Überhaupt ließ er wenig erkennen,
was in ihm vorging. Wahrscheinlich hatte er diese Haltung ein Leben lang geübt:
die Haltung des Unbeteiligten, der der Welt nicht verriet, was in ihm vorging.
    Franca
versuchte, das hochkomplexe Bild, das sich mit jedem Tag, den sie im
Gerichtssaal verbrachte, mehr verzerrte, mit ihren Empfindungen und ihrem
Wissen abzugleichen. Manchmal, in seltenen Augenblicken, erkannte sie in ihm
den Mann wieder, mit dem sie das Bett geteilt hatte und den sie für kurze
Momente in ihr Herz geschlossen hatte. Doch die meiste Zeit blieb er ihr fremd.
    Ihre
Erinnerung setzte sich aus vielen positiven Empfindungen zusammen, die sie im
Vergleich mit ihrem aktuellen Wissen jedoch in einem völlig anderen Licht
betrachtete. Ihre Gefühle waren sehr zwiespältig. Plötzlich schoss ihr ein Bild
durch den Kopf, ein schier unerträglicher Gedanke: Während er mit ihr im Bett
lag, fantasierte er davon, einem Kind Grausames anzutun.
    Sie
wusste, mit dieser Erfahrung würde sie alt werden. Die Erinnerung an Benjamin
Jacobs auszulöschen würde unmöglich sein. Es war eine Erfahrung, auf die sie
liebend gern verzichtet hätte, die sie mit großer Scham erfüllte. Und die
dennoch zu ihr gehörte. Die sie annehmen musste.
    »Sie
erwähnten einen frühkindlichen Hirnschaden. Kann dies Auswirkungen auf die
Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten haben?«, fragte der
Vorsitzende Richter.
    »Nein«,
betonte der Gutachter. »Im Erwachsenenalter ist ein solcher minimaler Schaden
in der Regel nicht mehr nachzuweisen, die Betroffenen gelten als gesund. Ein
derartiger leichter Defekt ist für die Frage der Schuldfähigkeit völlig
bedeutungslos.«
    Die
Reaktionen der Zuschauer im Saal drückten Erleichterung aus.
    »Konnten
Sie pädophile Neigungen bei dem Angeklagten feststellen?«
    »Pädophile
Neigungen haben vermutlich keine Rolle gespielt. Seine Handlungen waren eher
Abreaktionen, womöglich im Zusammenhang auf vorangegangene
Frustrationsempfindungen.« In den Fällen, die ihm zur Last gelegt wurden, habe
er mit manipulatorischem Geschick eine hilflose Person ausgewählt und damit ein
möglichst großes Gefälle geschaffen, um seine Allmachtsfantasien auszuleben.
»Man muss sich das so vorstellen: Jemand steht unter Hochspannung. Durch die
Tat entlädt sich diese Hochspannung, ein Kurzschluss tritt ein und damit
Erleichterung.« Das sei nicht selten zu beobachten bei so gearteten Tätern.
»Manchmal stehen solche Täter hinterher fassungslos vor dem Geschehen. Wie sich
das mit Benjamin Jacobs verhält, kann ich nicht beurteilen. Er hat nichts
dergleichen zugegeben.«

63
     
    Am letzten der insgesamt 16
Verhandlungstage war Timos Mutter nicht nur überraschenderweise anwesend, sie
war auch bereit, eine Aussage zu machen.
    »Jeden
Tag zünde ich Timos Kerze an«, begann Barbara Sielacks leise, die am
Zeugentisch mitten im Saal Platz genommen hatte. »Jeden Tag setze ich mich auf
sein Bett und spreche mit meinem Kind. Ich höre ihm zu, was er mir zu berichten
hat. Und ich sage ihm all das, was ich versäumt habe, als er noch am Leben war.
Am meisten belastet mich, dass ich mich nicht von ihm verabschieden konnte.
Dass er einfach plötzlich weg war.«
    Sie
schluckte. Tränen rannen ihre Wangen hinab.
    Franca
beobachtete Benjamin, wie er auf diese Worte reagierte. Sie sah, dass seine
Augen geschlossen waren. Dann hob er den Kopf und starrte mit leerem Blick vor
sich hin.
    »Timo
war ein offenherziges Kind voll Vertrauen. Er hat sich lautstark gewehrt, wenn
er glaubte, dass man ihm unrecht antat. Ganz sicher ist er nicht freiwillig zu
diesem Menschen ins Auto gestiegen.« Sie zeigte mit dem Finger in
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