Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vulkanpark

Vulkanpark

Titel: Vulkanpark
Autoren: Gabriele Keiser
Vom Netzwerk:
ihm. Es verhielt sich so ähnlich wie mit seinem
Bruder. Außer dass sein Sohn zum Glück kein Verbrecher war.
    Jahrelang,
jahrzehntelang hatte er Benno nicht mehr gesehen. Vor einer Woche hatte der
Prozess gegen ihn begonnen. Er war und blieb sein Zwillingsbruder, dessen
Existenz er nie vergessen konnte, obwohl er verzweifelt versucht hatte, die
Erinnerung an ihn auszumerzen. Der sich einen anderen Nachnamen zugelegt hatte.
Von dem er nicht einmal wusste, wo er lebte oder ob er überhaupt noch am Leben
war.
    Am
schwersten war, Dorothee alles zu erklären. Oftmals hatte sie ihn nur stumm und
kopfschüttelnd angeschaut, wenn er stockend wieder ein neues, ihr unbekanntes
Detail aus seiner Vergangenheit beichtete. Er rechnete ihr hoch an, dass sie
während der ganzen schlimmen Zeit zu ihm gehalten hatte und sogar mitgekommen
war in dieses Gebäude, wo man Antworten von ihm erwartete. Antworten, die er
nicht imstande war zu geben.
    Neugierige,
die am Eingang zum Landgericht standen, starrten ihn an. Fragten sie sich, ob
er der Mörder war? Er war als Zeuge geladen. Nach so vielen Jahren würde er nun
seinen Bruder wiedersehen. Der Mann, der ihm als Kind geglichen hatte wie ein
Ei dem anderen, von dem er dachte, er wäre es, wenn er in den Spiegel sah. Aber
das war lange her.
    Als er
aufgerufen wurde, betrat er den Saal und steuerte etwas unsicher den
Zeugenstand an. Sein Bruder saß auf der Anklagebank. Zuerst beachtete er ihn
nicht. Dann traf ihn sein Blick wie ein Pfeil. Wie hat er sich verändert,
dachte Michael. Benjamin hatte offenbar viel Sport getrieben, denn im Gegensatz
zu Michaels etwas schwerfälliger Figur war er sehr schlank.
    Er
senkte den Kopf, das alles war ihm unheimlich. In Anzug und Krawatte fühlte er
sich nicht wohl. Er spürte die Hitze in seinem Kopf aufsteigen.
    »Als
Angehöriger dürfen Sie die Aussage verweigern«, wurde ihm mitgeteilt. »Sie
können die Beantwortung von Fragen unterlassen, wenn Sie Gefahr laufen, sich
damit selbst zu belasten.«
    Er
wollte dies nur schnell hinter sich bringen.
    Er habe
sich nichts vorzuwerfen, sagte er leise. Deshalb wolle er auch aussagen. Er
drückte den Rücken durch. »Schon deshalb, weil man zuerst mich beschuldigt hat,
diese Tat begangen zu haben.«
    Stockend
begann er zu erzählen. Vom strengen Vater, von der liebevollen, aber schwachen
Mutter. Und von seinem Ebenbild, dem Bruder, der stets negativ auffiel. Der
bereits im Kindergarten die Bauklötzchentürme der anderen Kinder mit
sichtlicher Wonne kaputt machte. In der Schule hat er seiner Lehrerin und den
Mitschülerinnen den Rock hochgehoben. Er war undiszipliniert. Nicht normal. Er
brachte jedermann mit seinen unkontrollierten Wutausbrüchen zur Verzweiflung.
»Einmal haben wir eine elektrische Eisenbahn bekommen. Das Aufbauen hat viel
Mühe gemacht und war was ganz Tolles. Aber Benno brachte es fertig, mit einem
Schlag alles kaputt zu hauen, weil er sich über irgendetwas geärgert hatte.«
Was für einen Gesichtsausdruck er dabei bekam. Unheimlich. Ganz verzerrt. Ein
anderer Mensch.
    »So war
es oft«, sagte Michael mit belegter Stimme. »Wir bauten etwas zusammen. Und er
rastete wegen irgendeiner Kleinigkeit aus und schlug alles kurz und klein.«
    »Ihr
Bruder ist als Jugendlicher in ein Heim gekommen. Weshalb?«
    »Als
die Sache mit dem Nachbarmädchen passierte, fand unser Vater, dass er ins Heim
sollte. Wo ihm endlich jemand Zucht und Ordnung beibringen würde. Da war er
13.«
    »Was
genau ist passiert?«
    Michaels
Blick ging kurz in die Richtung, in der sein Bruder saß. Leise sagte er: »Er
soll das Mädchen … sexuell belästigt haben.«
    Im Saal
wurde es unruhig.
    »Mit
13?«
    Michael
nickte. »Aber ich weiß nicht genau, was passiert ist. Ich wollte es
wahrscheinlich auch nicht wissen.«
    »Gab es
eine Anzeige?«
    »Ja.
Aber bei uns in der Familie wurde nicht darüber geredet.«
    »Sie
haben nie darüber gesprochen?«
    »Ich
hab es versucht.« Hilfloses Heben der Schultern. »Aber es kam keine Antwort.
Jedenfalls keine, die etwas erklärt hätte. Unsere Mutter hat ihn immer in
Schutz genommen. Aber sie war nervenkrank …« Michael geriet ins Stottern. Er
war es nicht gewohnt, so lange zu reden und schon gar nicht von solchen Dingen,
die er am liebsten vergessen hätte. »Sie hat vieles nicht wahrhaben wollen, hat
sich in ihrer Welt verkrochen. Wir Kinder waren oft uns selbst überlassen und
mussten viel mit uns allein ausmachen. Als Vater beschloss, Benno in ein Heim
zu geben, durften
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher