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Von Kamen nach Corleone

Von Kamen nach Corleone

Titel: Von Kamen nach Corleone
Autoren: Reski Petra
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ehrwürdiger war als das ganze Ruhrgebiet zusammen. Im Grunde unterschied sich meine Erwartung vom Süden damals nicht wesentlich von jener der Generationen vor mir – den Reisenden der Grand Tour, für die diese Reise nach Italien ein »Curriculum der Welterfahrung und Selbstbildung« war. Für Patriziersöhne, die angesichts des Klimas und der Sinnlichkeit in einen ekstatischen Rausch gerieten. Für adlige Damen, die über die schlechte Luft in den Pontinischen Sümpfen klagten. Leider wusste ich noch nichts von der Grand Tour . Nur etwas von Pizza Quattro Stagioni.
    Am Tag bevor ich mit dem Spider losfuhr, hatte ich noch einen kleinen Spaziergang durch die Stadt gemacht, mit prüfendem Blick. Auf der Suche nach dem Früher stellte ich fest, dass es keine Post mehr gab und nur eine einzige winzige Pizzeria, dafür aber jede Menge Discount-Läden, Schnäppchenmärkte und Restpostengeschäfte. Manchmal sah ich Gesichter, die ich kannte. Oder die ich gekannt habe. Ehemalige Mitschüler. Wenn ich sie erkannte, war mir, als sähe ich ihre Kindergesichter vor mir, aber schon nach zwei Wimperschlägen waren sie wieder gealtert. So war es auch, als ich meinem alten Lateinlehrer begegnete.
    »Na, Petra, lebst du noch?«, sagte er und lachte.
    »Ja«, sagte ich. »Noch.«
    Ich hatte ihn bei Karstadt getroffen, zwischen zwei Verkaufstischen mit verramschten Büchern. Kamasutra für Anfänger und Blumenampeln selbst gemacht für zwei Eurofünfzig. In Kamen gibt es niemanden, der nicht wüsste, dass ich mein letztes Buch über die Mafia geschrieben habe. Und dass ich von einigen Personen, die in meinem Buch vorkommen, verklagt und bedroht wurde. Wenn meine Mutter auf dem Wochenmarkt einkauft, fragt man sie: »Na, wie viele Klagen hat deine Tochter denn schon?« Als handele es sich um einen guten Witz.
    Auch mein Lateinlehrer amüsierte sich. »Was kostet eigentlich so ein Mord, bei den Mafiosi?«, fragte er, immer noch lachend. Ich bemerkte, dass seine Haare immer noch so lang waren wie zu der Zeit, als er als junger Referendar in unsere Schule gekommen war. Damals war er blond, jetzt waren seine Haare weiß.
    »Nichts«, sagte ich. »Mafiosi bringen aus Überzeugung um.«
    »Tatsächlich«, sagte mein Lateinlehrer erstaunt. Dann fügte er hinzu: »Aber da, in Italien, da kriegt man das Problem mit der Mafia einfach nicht geregelt.«
    »Tja«, sagte ich.
    »Und wirst du jetzt ... beschützt?«, fragte mein Lateinlehrer und kicherte wieder. »Ich meine: Ist da so Polizei um dich herum?«
    Vielleicht lag es an den Stapeln von Kamasutra für Anfänger . Oder an den Blumenampeln selbst gemacht . Ein Idyll, das jeden Gedanken an Mafia erstickt. Meine Lippen klebten zusammen. Ich wollte antworten. Doch ich war nicht schnell genug. Ich wollte sagen: Auch hier in Deutschland gibt es ... Aber es kam nichts aus mir heraus. Und als sich meine Lippen wieder lösten, war mein Lateinlehrer schon weitergegangen.

2
    Bis auf ein paar Wolken, die am Horizont liegengeblieben sind wie ein unordentlich zusammengelegtes Bettlaken, hat sich der Himmel aufgeklärt. Nahezu endloses Azur. Fast wie in Italien. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich bereits in Italien lebte, als mich ein italienischer Fotograf davon zu überzeugen versuchte, dass es nichts Monotoneres gäbe als einen ewig blauen Himmel. Ich war der Meinung, dass es sich dabei um ein Minderheitenproblem handeln müsse, denn wer so wie ich einen großen Teil des Lebens unter atlantischen Tiefausläufern verbracht hat, ist für jeden Tag dankbar, an dem er in diesen ewig blauen Himmel blicken darf. Eigentlich. Aber irgendwann, als ich in Sizilien in dem gleichen unendlichen Blau aufwachte, das mich schon seit Wochen begleitet hatte, dachte ich, dass er recht hatte. Man kann der Unendlichkeit und des schönen Wetters überdrüssig werden. Die Vollkommenheit ermüdet. Das Auge sehnt sich nach Unregelmäßigkeiten. Nach dem Muttermal in einem ebenmäßigen Gesicht. Nach der einen hervorspringenden Säule an der Renaissancefassade. Nach dem winzigen Federwölkchen im endlosen Azur. Solche Gedanken kommen mir beim Autofahren. Auch weil schon wieder ein Schutzwall mein Gesichtsfeld begrenzt. Das Einzige, was ich uneingeschränkt betrachten kann, ist der Himmel.
    Die nächste Ausfahrt führt nach Schwerte. Obwohl es nicht weit vom Ruhrgebiet entfernt ist, kann man Schwerte fast idyllisch nennen, eine Kleinstadt am Rande des Sauerlandes, zwischen Wiesen und milden Hügeln in die Senke des Ruhrtals
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