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Von Kamen nach Corleone

Von Kamen nach Corleone

Titel: Von Kamen nach Corleone
Autoren: Reski Petra
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ich nach Deutschland komme, fallen mir diese Fahnen auf. Sie schmücken Vorgärten und hängen an Garageneinfahrten, sie verblassen an alten Fernsehantennen und an Balkongeländern. Die Fahnen sind neu in Deutschland. Jedenfalls für mich.
    An der Teppichstange unseres Nachbarhauses hängt neuerdings auch eine Deutschlandfahne. Immer wenn ich bei meiner Mutter zu Besuch bin, gleiche ich die Plätze meiner Kindheit zwanghaft mit den Orten der Gegenwart ab. Ich lege das Heute auf das Damals und prüfe die Unterschiede. Auch dieses Mal stand ich am Fenster meines einstigen Zimmers, schob die von meiner Mutter mit viel Liebedrapierten Spitzengardinen etwas beiseite und blickte hinaus, wo alte Männer mit Prinz-Heinrich-Mützen durch die Straße hasteten, offenbar warteten ihre Frauen mit dem Mittagessen auf sie. Ein Altmetalltransporter fuhr vorbei, aus dem ein elektrisches Flötenspiel ertönte, es klang wie die Melodie des Lumpensammlers meiner Kindheit. Wir sind der Melodie immer mit einer Mischung aus Argwohn und Neugier gefolgt, weil es von dem Lumpensammler hieß, er sei Zigeuner. Und Zigeuner klauten Kinder, das war bekannt. Tatsächlich hatte der Lumpensammler schwarze Haare und dunkle Haut. Zigeuner und Südländer galten gemeinhin als dunkle Typen. Ein Urteil, das ich für etwas vorschnell hielt, denn die Italienerin der Eisdiele Cortina war selbst im Hochsommer so bleich wie die Bergmänner, die bei ihr Zitroneneis für ihre Kinder kauften. Ich liebte es, die Italienerin dabei zu beobachten, wie sie mit dem Portionierer das Eis aus dem Behälter schabte, zu Kugeln formte und klackend in die schwere, silberne Schale gleiten ließ – eine Schale, die mit einem Hauch von Reif überzogen und so kalt war, dass meine Finger an ihr festklebten. Die Haare der Italienerin waren schwarz mit einem Grauschimmer, wie Kokskohle. Ein behaartes Muttermal zierte ihr Kinn. Sie lächelte nie. Ich habe immer vermutet, dass sie an Heimweh litt.
    Unten auf der Straße liefen weißhaarige Türken zur Moschee, die sich an der Straßenecke befindet. Früher war dort eine Heißmangel, ich erinnere mich noch an den Geruch der Laken, die dampfend aus der Mangel in einen großen Korb fielen. Und heute wird dort gebetet, wo früher schwitzende Frauen die Bettlaken falteten. Weil es in der Heißmangel so heiß war, trugen die Frauen nichts anderes als ihre Unterwäsche unter den Kittelschürzen, was mich als Kind sehr beeindruckt hat. Die Frauen trugen ihreKittelschürzen so weit aufgeknöpft, dass ich ihre riesigen Büstenhalter sehen konnte. Jedes Mal, wenn ich die alten Türken mit den weißen Haaren sehe, frage ich mich, ob sie sich damals, als sie ins Ruhrgebiet kamen, hätten träumen lassen, in einer deutschen Zechensiedlung alt zu werden. Zwischen einer Moschee, die mal eine Heißmangel war, in der Frauen halbnackt arbeiteten, und einer Videothek, die einst eine Kneipe war, in der sich der Sparclub meiner Großmutter traf.
    Unten an der Bushaltestelle unter unserem Haus warteten alte Frauen mit Gehwagen auf den Bus, in meiner Kindheit standen dort Bergmänner, die der Zechenbus abholte. Sie trugen lederne Aktentaschen, in denen sich Thermoskannen und Butterbrote befanden. Hinter unserem Haus fuhr die Zechenbahn vorbei. Heute hat sich ihre Trasse in einen Radweg verwandelt, über den in Windjacken gehüllte Rentner fahren, und die Gemüsebeete der Zechenhäuser, in denen früher Grünkohl wuchs, wurden in Märchengärten verhext, mit Attrappen von Ziehbrunnen und mit Miniaturteichen, über die sich schmale Holzbrücken aus Plastik spannen, wie geschaffen für Schneeweißchen und Rosenrot. Früher waren alle Zechenhäuser so grau wie der Himmel an schlechten Tagen, heute sind einige von ihnen vanillegelb verputzt, was die restlichen umso grauer erscheinen lässt. An einer Regenrinne hing eine schlaffe Deutschlandfahne. So wie an diesem Fahrerhaus des LKW neben mir auf der Autobahn.
    Weit bin ich noch nicht gekommen. Fünf Kilometer vielleicht. Bleiben noch 4440. Ich spiele an dem Navigationssystem herum, größerer Ausschnitt, kleinerer Ausschnitt. Die Stimme des Navigationssystems erinnert mich an meine Handarbeitslehrerin. Ganz schlechte Assoziation. Manchmal träume ich noch heute davon, vier ReihenKreuzstich sticken zu müssen, in ein vom Angstschweiß feucht und grau gewordenes Stück Batist.
    Dortmund-Wickede, Unna, hier geht es zum Ruhrschnellweg. Den bin ich erst gestern gefahren, als ich in Dortmund Italienisch essen ging.
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