Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Von Kamen nach Corleone

Von Kamen nach Corleone

Titel: Von Kamen nach Corleone
Autoren: Reski Petra
Vom Netzwerk:
mit einem rudimentären Sizilianisch voller Grammatikfehler zu tarnen versuchte, sondern wichtige Namen mit Zahlen kodierte, eine Verschlüsselungstaktik, die an ein Kinderspiel erinnert: Die Ziffer 4 bedeutet A, Ziffer 5 B, Ziffer 6 C. Und so weiter. Und natürlich durfte die Formel Danken wir unserem Herrn Jesus Christus am Ende nie fehlen.
    Während sein Bruder die Geschäfte der Familie führte, studierte Paolo Provenzano Deutsch. Deutschland wird ihm vertraut gewesen sein: Immerhin lebte sein Onkel Simone dreißig Jahre lang in Nordrhein-Westfalen, im niederrheinischen Willich, keine anderthalb Stunden Autofahrt von Schwerte entfernt. Dort arbeitete er als Stahlkocher bei Thyssen. Simone war in den sechziger Jahren nach Deutschland gegangen – nach ein paar Unannehmlichkeiten, die ihm in Sizilien widerfahren waren, ein Mordprozess, bei dem er mangels Beweisen freigesprochen worden war. Solche Dinge. In Willich hatte er in einem gemieteten Reihenhaus gelebt. Bis er wieder nach Corleone zurückkehrte, um dort seinen Lebensabend zu verbringen.
    Es war der abtrünnige Mafioso Antonino Giuffrè, der einstige Stellvertreter Provenzanos, der die italienischen Staatsanwälte darauf aufmerksam machte, dass hinter einer Figur wie dem Bruder von Provenzano mehr stecke als die übliche Geschichte vom Gastarbeiter, der mit einem Pappkoffer nach Deutschland aufbricht, um sein Glück zu versuchen.
    Es sei ja wohl nicht so gewesen, dass der Bruder von Provenzano nach Deutschland gegangen sei, um sich abzusetzen oder als Hilfsarbeiter zu arbeiten, sagte Giuffrè. Vielmehr gehe es der Mafia stets darum, in Deutschland Beziehungen zu knüpfen, mit Banken, mit deutschen Unternehmern – seit dem Fall der Mauer umso mehr. Wie viele italienische Unternehmen seien nach Deutschland gegangen, um zu investieren! Das Geheimnis des Überlebens der Mafia liege darin, dass sie sich stets den Veränderungen der Welt angepasst habe. Und in Zeiten der Globalisierung, sagte Giuffrè, sei die Mafia zu einem multinationalen Unternehmen geworden: Das Gehirn sitze in Sizilien, dann gebe es Gruppen von Sizilianern in Deutschland, in Osteuropa. Von wegen der Gastarbeiter mit dem Pappkoffer. Der Mafia gehe es um Aktienpakete.
    Als die Provenzano-Familie 1992 wieder nach Corleone zurückgekehrt war, hieß es, dass die beiden Söhne fließend Deutsch sprachen. Zumindest ab und zu werden sie Onkel Simone in Willich besucht haben. Weshalb die italienischen Ermittler auch hofften, hier seinen Bruder Bernardo aufzuspüren, bei einem Weihnachtsfest en famille . Ein Weihnachtsfest der verdeckten Maßnahmen. Abhören, observieren, verfolgen. Doch die Fahnder, die aus Palermo angereist waren und ihr Hauptquartier im Polizeipräsidium von Mönchengladbach hatten, lauerten zwei Wochen vergeblich auf ihn.
    »Man konnte dem Jungen ja nichts vorwerfen«, sagte der Direktor dann noch.
    »Aber er ist in der Mafiakultur aufgewachsen«, versuchte ich einzuwenden.
    Und der Direktor antwortete, dass er nicht genau wisse, was er sich darunter vorstellen solle.
    Die Mafia ist ein totalitäres System – bestimmt von derVerachtung für das menschliche Leben, wollte ich sagen. Mafiakultur bedeutet, dass der Einzelne nicht existiert und dass alle Interessen der Mafia untergeordnet sind. Dass es keine Werte gibt, an die man glaubt. Dass »Ehre« und »Familie« nur hohle Floskeln sind, weil stets nur eines zählt: das Weiterbestehen der Mafia. Und dass die Mafia, um dieses Ziel zu erreichen, jeden Einzelnen mit einem »Über-Ich« ausstattet, mit dem Bewusstsein, zu einem auserlesenen Volk zu gehören. Und dass die Zugehörigkeit mit Riten und ungeschriebenen Gesetzen und Aufnahmeritualen beschworen wird – genau wie der Nationalsozialismus seine Mitglieder mit einem Über-Ich ausgestattet hatte. Aus einem Nichts wird ein Mafioso.
    Ich sagte: »Mafiakultur, das ist so etwas wie Nazikultur. Wenn der Begriff ›Kultur‹ in diesem Zusammenhang überhaupt erlaubt ist.«
    Ich hörte, wie der Direktor kurz Luft holte.
    »Am Telefon ist das schwer zu erklären«, sagte ich noch und suchte nach einem Vergleich. Nach einer Person, die in Deutschland ähnliche Assoziationen auslöst wie der Name Provenzano in Italien. Ich suchte nach einem Schlächter, der die Politik bis in die Gegenwart hinein beeinflusst. Nach einem Mörder mit einem Erpressungspotenzial, vor dem sich bis heute eine ganze Politikerkaste fürchtet. Einer, der mit einem langjährigen Bundeskanzler die Bedingungen für
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher