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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Autoren: Maori Kunigo
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aus ihrem
Glauben, und er gibt ihr im Leben den nötigen Halt. Erwartungsvoll
verabschiedet sie sich von uns und stapft Richtung Kathedrale. Da Anni langsam
müde wird, verlässt sie uns ebenfalls und zieht sich in ihr Nachtlager zurück.
Solange Avril bei der Pilgerstunde ist, plaudern Lyn und ich über den Camino
und das Leben. Dabei erfahre ich, dass Lyn eigentlich das Laufen hasst wie die
Pest. Bemerkenswert, trotzdem dem Ruf des Weges zu folgen und ihn zu
beschreiten. Wenn ich ungern laufen würde, ich wüsste nicht, ob ich
ausgerechnet den Camino angegangen wäre. Aber sie hat es geschafft und ist
völlig zu Recht ein wenig stolz auf die vollbrachte Leistung.
    Als Avril glücklich und
zufrieden die südliche Kathedraltreppe heruntergelaufen kommt, haben wir noch
exakt eine halbe Stunde zu dritt. Kurzentschlossen setzen wir uns in eine Bar
und gönnen uns sagenhaft leckere Sardinen, dazu ein Gläschen Rotwein. Die
Stimmung ist großartig, um uns herum tobt das Leben. Menschen aus aller Welt
sitzen beisammen, plaudern und schreien, lachen und feiern, was würde ich für
eine weitere Woche in Santiago geben? Um zweiundzwanzig Uhr ist es soweit, und
unsere Wege trennen sich. Wir verabschieden uns ohne Tränen, stattdessen mit
viel Gelächter und Umarmungen. Für melodramatische Momente sind Spaßvögel wie
wir einfach nicht geboren. Auf dem Weg zum Bahnhof lasse ich den heutigen Tag
Revue passieren. Wie faszinierend und unglaublich ereignisreich er war. Um
genau zu sein, der heutige Tag verlief wie mein gesamter Camino. Während des
stundenlangen Suchens fühlte ich mich auf die Römerstraßen zurückversetzt.
Hartnäckigkeit und Durchhaltevermögen waren gefordert. Die stillen Momente
zwischendurch wie beispielsweise meine Mittagspause auf dem Unigelände stehen
für die grandiosen Augenblicke in Burgos, Manjarín oder auf dem camino duro. Die Wahl des richtigen Weges steht für das Weitergehen nach Fisterra und Muxía,
das Wiedersehen mit Avril für die Belohnung, die sagenhaften Momente am Meer.
So ist jeder Tag auf dem Camino. Und so ist der gesamte Camino. Ab und an
wechselt die Reihenfolge, hier und da die Intensität, aber am Ende des Tages
fragt man sich: Womit habe ich dieses Glück verdient? Vielleicht ist es nur
Glück. Vielleicht aber auch das Leben, dem man sich einfach nur zuwenden muss.

Outro
     
     
    Neulich fragte mich ein
Bekannter, ob sich durch die Reise irgendetwas Gravierendes in meinem Leben
verändert habe. Eine gute Frage. Nach wie vor arbeite ich als Texter bei einer
großen Werbeagentur. Ich wohne in Hamburg-Eimsbüttel, treffe mich mit meinen
Freunden wie Sebastian und Carina, bin wegen meiner Allergien in ärztlicher
Behandlung. Augenscheinlich lebe ich das gleiche Leben wie vor dem Camino. Aber
wenn ich in mich hineinhorche, werde ich plötzlich von lauter Veränderungen
überrollt.
    Beispielsweise fürchte ich mich
überhaupt nicht mehr vor Hunden. Ganz im Gegenteil, manchmal erwische ich mich
sogar bei dem Gedanken, selbst einen zu adoptieren. Für den
Durchschnittsmenschen mag es banal klingen, aber für mich bedeutet es eine
ungeheuerliche Veränderung. Allein ein Spaziergang durch den Park gestaltet
sich heute ganz anders als früher.
    Wenn ich neuerdings Fremden
begegne, gebe ich ihnen und mir eine wesentlich längere Zeitspanne zum
Kennenlernen. Urteile fälle ich erheblich bedachter und nicht annähernd so
reaktionär wie vorher. Zahlreichen Menschen, die ich auf die Abschussliste
gesetzt hatte, begegne ich heute ganz anders; das bedeutet, dass ich einige
Fehlurteile annulliert habe. Gleichzeitig aber sieht sich der eine oder andere
falsche Freund mit ungekannter Ignoranz konfrontiert. Ich habe überhaupt keine
Lust mehr, meine kostbare Lebenszeit mit kaltherzigen, egoistischen Parasiten
zu verplempern. Jede eingesparte Minute gebe ich für meine Freunde aus.
    Mein ehemals ausgeprägter
Materialismus ist völlig verkommen. In den letzten Monaten habe ich bergeweise
Besitztümer abgetreten, Zeugs verhökert, unbrauchbaren Schrott entsorgt. Heute
gebe ich den Großteil meines Einkommens für meine Ernährung aus, nicht mehr für
neue Kameras und Notebooks.
    Es gibt unzählige weitere
Veränderungen, die ich hier nicht alle auflisten möchte. Zu meinen
Pilgerbekanntschaften allerdings möchte ich doch noch ein paar Worte verlieren.
Mit Avril, Chris, Marcos und Martina tausche ich mich regelmäßig aus. Chris in
Alltagsklamotten zu begegnen war für mich beinahe ein Schock. Vor
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