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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Autoren: Maori Kunigo
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erst nach dem Sonnenuntergang am Felsen?«
    »Ich habe den ganzen Tag am
Strand gelegen und verschlafen«, antwortet sie tapfer lächelnd, aber merklich
enttäuscht.
    Sie heißt übrigens Johanna. Den
heutigen Sonnenuntergang möchte sie auf gar keinen Fall verpassen, so dass wir
beschließen, ihn uns gemeinsam anzusehen. Um halb acht verlassen wir die
Herberge, Johanna mit einer Isomatte unterm Arm geklemmt. Im Supermarkt kaufen
wir uns eine Flasche Wein. Das hört sich edel an, solange ich nicht erwähne,
dass es sich um einePET-Flasche handelt. Tja, ich habe
mein Taschenmesser in der Herberge vergessen, so dass wir uns für die einzige
Weinflasche mit Schraubverschluss entscheiden. Anschließend schauen wir bei
einer panadería vorbei und kaufen viel zu viele empanadas. Vollbepackt begeben wir uns auf die Landspitze vor Muxía und kauern uns nur
wenige Meter von den tosenden Wellen entfernt auf einen flachen Felsen.
Ununterbrochen reden wir miteinander, als hätten wir irgendetwas nachzuholen,
aufzuarbeiten, auch dann noch, als die Sonne längst untergegangen ist.
    Sie erzählt mir aus ihrem
Leben, sehr persönliche Dinge, die ich für mich behalte. Ebenso tauschen wir
uns über den Camino aus. Sie hat sich mit ihrem Weg viel Zeit gelassen, war
häufig allein unterwegs, eine Weile auch mit einigen lautstarken Studenten, was
ich nicht besonders ehrenwert finde, aber das kann sie sich sicherlich denken.
Eine Geschichte allerdings sticht deutlich hervor. Irgendwann begegnete Johanna
einem älteren Herrn, der zunächst einen harmlosen, netten Eindruck auf sie
machte. Doch dann begann er sie abzupassen, ihr immer näher zu kommen, sie zu
belästigen, so dass sie ihn mit einem dezenten Hinweis auf ihr imposantes
Taschenmesser verscheuchen musste. Im Internet habe ich gelesen, dass Frauen
für alle Fälle eine Dose Pfefferspray bei sich führen sollten, um jederzeit
gegen unerwünschte Avancen gewappnet zu sein. Nun kann ich diesen Hinweis um
einen weiteren ergänzen: Mit einem Messer lässt sich ein ähnlich wirkungsvoller
Effekt erzielen.
    Über uns erstreckt sich ein
sagenhafter Sternenhimmel, und es tut gut, den letzten Abend mit einer
verwandten Seele zu verbringen. Auch Johanna hatte vor Reiseantritt mit ihrer
Angst zu kämpfen, und je mehr sie über sich erzählt, desto mehr Parallelen
stelle ich bei mir fest. Dass wir vor einigen Wochen unsere Ängste überwunden
haben, um uns nach Hunderten von beschwerlichen, fröhlichen, schmerzlichen,
warmherzigen, zweifelhaften, tröstenden, strapaziösen, atemberaubenden,
nervigen, verwunderlichen und erfüllenden Kilometern heute Abend hier am
Atlantik unter einem sternenklaren Nachthimmel zu treffen und unser ganzes
Leben Revue passieren zu lassen, empfinde ich als hart erkämpftes, mehr als
verdientes Glück.
    Irgendwann, ohne einen
erkenntlichen Grund, fällt mir ein dass die Herberge um zweiundzwanzig Uhr
abgeschlossen wird. Ich blicke auf die Uhr. Es ist einundzwanzig Uhr vierzig.
Wow das wird knapp! Sofort packen wir all unseren Kram ein und eilen durch die
leeren Gassen des nächtlichen Muxía. Während wir Richtung Herberge hetzen,
reden wir stur weiter. Wir lassen uns doch nicht von irgendwelchen
Öffnungszeiten unsere Gespräche diktieren.
    »Ich bin manchmal so verpeilt«,
sagt sie und lacht.
    Naja, das habe ich auch schon
gemerkt. Aber seien wir mal ehrlich, allein wäre sie längst zur Herberge
zurückgelaufen, von daher erübrigt sich die Frage, ob sie ohne mich ausgeschlossen
worden wäre. Gerade noch pünktlich huschen wir durch die Eingangstür, kurz
darauf wird sie abgeschlossen. Manchmal habe ich aber auch ein beängstigend
gutes Zeitgefühl. Da wir noch viel zu aufgekratzt sind, um schlafen gehen zu
können, machen wir es uns im Erdgeschoss auf einer Couch gemütlich. Wir
blättern in den Gästebüchern der Herberge herum, tragen uns selbstverständlich
ein, plaudern immer weiter und nippen an der PET-Flasche. Nach und nach
verschwinden die anderen Pilger in den Schlafsälen, und irgendwann sitzen wir
zu zweit im Dunkeln. Um ein Uhr nachts kann ich nicht mehr, permanent fallen
mir die Augen zu. Wir beschließen, unser gemeinsames Bett aufzusuchen. Am Ende
des langen Tages bleibt eine einfache Erkenntnis: Das Leben will gelebt werden.
Spar dir alles andere für den Tod auf.
     
    Etappe 26: Fisterra — Muxia
(27,8 km)

Freitag, 25. September 2009
     
    Der heutige Tag beginnt mit
einer Weckaktion. Um rechtzeitig den Bus nach Santiago zu erreichen,
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