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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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    Es war gefährlich, unter dem Wasserfall zu stehen. Trotzdem machten es manche. Und auch ich machte es. Das Wasser spülte meine Gedanken weg und brannte mir auf der Haut. Es peitschte so heftig gegen meinen nackten Oberkörper, dass ich nicht mehr denken konnte. Natürlich wusste ich, dass dieses Wasser die Kraft hatte, mich umzureißen, mir den Atem abzuschnüren oder mich gegen den Felsen zu pressen.
    Trotzdem machte ich es immer wieder.
    Wenn meine Eltern das gewusst hätten, wären sie ausgerastet. Sie gaben sich alle Mühe, mich in Watte zu packen, seit ich im vorigen Jahr aus dem Patterson Hospital entlassen worden war. Meine Mutter geriet schon in Panik, wenn ich mal vergaß, meine Medikamente zu nehmen. Deshalb würde ich ihr ganz sicher nichts von dem Wasserfall erzählen. Wie hätte ich auch erklären sollen, dass ich es brauchte, wenn mir das Wasser auf den Kopf trommelte, bis mir fast der Schädel platzte?
    Und ich brauchte es wirklich. Das Wasser schoss tosend über den Felsrand, prasselte auf meine Schultern und meinen Kopf und rief ein Dröhnen hervor, das sogar in den glitschigen Steinen unter meinen Füßen zu spüren war. Meine Nerven prickelten und vibrierten. Nur mit gewaltiger Anstrengung gelang es mir, unter dem Wasser still zu stehen.
    Ich hatte zwar schon viel in meinem Leben vermasselt, aber das schaffte ich: still zu stehen. Okay, sehr hoch legte ich die Latte nicht gerade an.
    Es gab Gerüchte, dass hier mal ein Mann ertrunken oder vom Felsen gestürzt war. Angeblich war sein Schädel an den Steinen zerschmettert und seine Hirnmasse hatte sich im Wasser verteilt. Von dieser Geschichte waren verschiedene Versionen im Umlauf, eine immer blutiger und unglaubwürdiger als die andere.
    Auch über mich gab es Gerüchte, über das, was ich im letzten Jahr getan hatte. In der Schule warfen deshalb alle nur verstohlene Blicke auf mich. Manchmal spielte ich mit dem Gedanken, mit Schaum vorm Mund wilde Selbstgespräche zu führen, weil es die anderen zu enttäuschen schien, dass ich es nicht machte. Aber ich war mir nicht sicher, ob sie begreifen würden, dass das ein Scherz sein sollte. Ein paarmal hatte ich versucht, jemanden zum Lachen zu bringen, doch das hatte mir nur verlegene oder beunruhigte Blicke eingetragen. Niemand erwartete von mir, dass ich Humor hatte, und es war sicherer für mich, die anderen annehmen zu lassen, dass ich möglicherweise verrückt war, als ihnen Beweise dafür zu liefern.
    Ich kannte mich also mit Gerüchten aus, wusste, dass sie zu fünfundneunzig Prozent Quatsch waren, oft aber ein Körnchen Wahrheit enthielten. Worin dieses Körnchen Wahrheit bei der Geschichte von dem Toten am Wasserfall bestand, wusste ich allerdings nicht.
    Als ich an einem Augusttag am Ufer des Bachs beim Wasserfall saß, kam Kent Thorntons Schwester vorbei. Kent ging wie ich in die elfte Klasse, und ich wusste, dass seine Schwester ein oder zwei Jahre jünger war als wir, hatte aber nie viel mit ihr geredet. Im letzten Jahr war sie noch auf der Junior Highschool gewesen.
    »Hey, Ryan«, sagte sie und baute sich auf dem Moos vor mir auf.
    »Hey.« Ich versuchte, mich an ihren Namen zu erinnern, was mir aber nicht gelang.
    Sie stand da und sah zu, wie das Wasser über den Felsrand rauschte. Das Farnkraut bewegte sich im Wind. »Willst du reingehn?«, fragte sie.
    »Nein, heute nicht.« In den letzten Tagen hatte es so sehr geregnet, dass der Bach und der Wasserfall stark angeschwollen waren. Ich hätte zwar gern herausgefunden, ob ich mich unter der Wucht des Wassers aufrecht halten konnte, aber eine Vollmacke hatte ich nun auch wieder nicht, egal was alle in der Schule über mich tuschelten.
    »Ich geh ständig rein.« Sie warf ihr Haar zurück und grinste. »Meine Freundin Angie taucht noch nicht mal den Fuß ins Wasser. Sie sagt, die Steine sind zu glitschig.«
    »Sind sie auch.« Nicht dass mich das jemals abgehalten hätte.
    Kents Schwester wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. »Du wohnst in dem Glashaus da oben, nicht?«
    »Es ist nicht aus Glas.« Ich konnte es nicht leiden, wenn die Leute es als Glashaus bezeichneten. Das hörte sich so an, als erwarteten wir, dass in irgendeiner Fernsehsendung über dieses architektonische Wunder berichtet werden würde. Wie Menschen leben, die viel mehr Geld haben als Sie . »Es hat nur eine Menge Fenster.«
    »Von mir aus. Aber du wohnst in dem Ding, stimmt’s?«
    »Ja. Warum?«
    Sie wurde knallrot. »Nur so.« Sie zeigte auf den
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