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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Autoren: Maori Kunigo
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Zumindest hoffe ich, dass er sich in sein Bett gelegt hat. Mittlerweile dürfte es halb zwölf gewesen sein. An Schlaf war
kaum noch zu denken, schließlich wurde es im Saal heißer und heißer.
Letztendlich lag ich schwitzend auf meinem Schlafsack und starrte auf die
Matratzenbeule über mir. Sämtliche Fenster lagen knapp unter der Decke, so dass
die kalte Luft von draußen nur die oben schlafenden Pilger abkühlte. Da ich den
Italiener nicht habe klettern hören, muss er wohl auch unten gelegen haben. Ich
hoffe, er hat sich die Seele aus dem Leib geschwitzt. Zumindest ich habe es. Zu
allem Überfluss eliminierte der Elfstundenschlaf der vergangenen Nacht jeden
Anflug von Müdigkeit.
    Nur drei bis vier Stunden,
nachdem ich endlich weggenickt bin, gehen im Saal die Lichter an, und Luciano
Pavarotti gibt postum sein Paradestück »Nessum Dorma« aus Puccinis »Turandot«
zum Besten. Eine halbe Stunde später sind Avril, Michelle, Melanie und ich auf
dem Weg nach Santo Domingo de la Calzada, unserem heutigen Etappenziel. In der
Morgendämmerung durch die malerische, weitläufige Landschaft zu trotten ist
traumhaft schön. Zwischen Weinbergen und abgeernteten Feldern treibt ein
Schäfer seine blökende Herde über den Camino, irgendwo in der Ferne sind
mysteriöse Höhlen in die schroffen Felsen geschlagen. Im winzigen Dörfchen
Azofra etwa sechs Kilometer hinter Nájera treffen wir die junge Koreanerin
wieder. Bei einem café con leche und einem absurd trockenen bocadillo
con chorizo lasse ich mir geduldig ihren Namen aufschreiben: Eun Hee. Wie
man das ausspricht, ist dann wieder eine ganz andere Frage. Aber sie erzählt
mir, weshalb so viele Südkoreaner auf dem Camino unterwegs sind: In Eun Hees
Heimatland lief eine äußerst erfolgreiche TV-Doku über den Jakobsweg. Jedes
Land hat seinen Hape, sage ich.
     
    Zwischen Azofra und Cirueña
steuern wir einen kleinen Rastplatz an. Umgeben von abgeernteten Feldern und
unter einem leicht bewölkten Himmel möchten wir eine kurze Verschnaufpause
einlegen, als wir auf einer der Sitzbänke eine kleine Pilgerin entdecken, die
uns verdammt bekannt vorkommt: Marie, die Französin aus Ventosa. Wir herzen
uns, als hätten wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Marie -Chantal, wie sie mir zuflüstert, will ihren sechzigsten Geburtstag (12. September) auf
dem Camino feiern und hat sich selbst das Pilgern zum Jubiläum geschenkt.
    Es kostet einige Mühen, um sich
zu verständigen, denn während in anderen deutschen Schulen neben Englisch als
zweites Fremdsprachenfach Französisch oder Spanisch angeboten wird, hält es die
Waldorfschule in Gladbeck immer noch für eine extrem clevere Idee, ihren
Schülern Russisch beizubringen. Die Weltsprache Russisch. Falls es mich eines
Tages einmal nach Russland verschlagen sollte, werde ich wahrscheinlich froh
sein, alle kyrillischen Buchstaben zu kennen. Allerdings bin ich der festen
Überzeugung, dass ich aus einem Spanischunterricht mehr Substanz mitgenommen
hätte. Jetzt müsste man nur noch herausfinden, welche Sprache einem eher das
Leben retten würde. Wenn man in Südamerika von FARC-Rebellen entführt würde,
könnte man sich auf Spanisch bei ihnen einschmeicheln, sie rhetorisch umgarnen,
Witze reißen, Fußballgespräche führen. In Russland konzentriert man sich eher
auf Morde denn auf Entführungen, so dass auch detaillierte Sprachkenntnisse
nichts nützen würden. Ob man nun auf Russisch »Nicht schie...« rufen kann oder
nicht, am Resultat würde es nichts ändern. Ärgerlicherweise empfand ich meine
Russischlehrer Frau Schmidt und Herrn Denzel als besonders engagiert. Leider
ist letztendlich sehr wenig haften geblieben, da ich meine Schulzeit als
dreizehn Jahre andauernde Unterdrückungsphase wahrgenommen habe. Nur ein
Beispiel: Unserem damaligen Kunstlehrer mangelte es selten an Engagement,
allerdings an Horizont. Wie absurd seine Persönlichkeit war, lässt sich daran
erkennen, dass er in einem Satz den Begriff der »entarteten Kunst« während der
NS-Zeit aufs Schärfste kritisierte, andererseits Comics nicht als Kunstform
ansehen wollte. Dabei heißt es doch immer wieder, Waldorfschulen würden
besonders die künstlerischen Fähigkeiten des Kindes fördern. Falsch. Wie jede
Schule steht und fällt auch eine Waldorfschule mit der Qualität des Personals.
Und was das angeht, herrschte an unserer Schule eine gewisse
Unterqualifikation. Während der Kunstlehrer mir also die Kunst austrieb,
bewegte sich beispielsweise der
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