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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Autoren: Maori Kunigo
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Tisch. Meine Güte, dagegen war sie ja gestern zu mir geradezu richtig
nett. Ohne weitere Ausführungen beginnt sie, der völlig verunsicherten
Jugendlichen wie ein Oberkommandeur der Streitkräfte unsere Bestellungen zu
diktieren. »Patatas fritas« mit britischem Akzent hört sich übrigens an
wie die Ankündigung der nächsten One-Hit-Wonder-Band bei »Top of the Pops«.
    Während wir aufs Festmahl warten,
kommt kein vernünftiges Gespräch zustande. Kein Wunder, denn Avrils schlechte
Laune wirkt sich auf ihr Kommunikationszentrum aus, und jeden Ansatz von
Konversationen oder Diskussionen beendet sie mit einem alle Fragen gleichzeitig
beantwortenden Satz. Zack, Thema tot. Mit leerem Magen kann ich richtig
unangenehm und irrational werden, zu einem unausstehlichen Werwolf mutieren,
die freundlichsten und gutmütigsten Menschen der Welt aufs Übelste beleidigen.
Aber eine hungrige Avril stellt eine nicht zu unterschätzende Gefahr fürs
Allgemeinwohl dar. Wenn ich meinen ersten Pilgertag überleben möchte, halte ich
wohl besser den Mund. Bald kommt das Essen, und ich denke: Puh, endlich, alles
wird gut. Aber von wegen: Das Essen ist der letzte Scheiß. Die Mädels kämpfen
sich durch Unkraut, und ich esse die zweitfettigsten Pommes meines Lebens. Die
fettigsten habe ich vor Jahren einmal im französischen Le Havre gegessen. Wenn
Le Havre etwas zu bieten hat, dann fettige Pommes. Ist das die stille Rache
einer vereinsamten, pummeligen Teenagerin, oder schlichtweg das Beste, was die
Spelunke zu bieten hat? Wir werden es wohl nie erfahren.
     
    Ab Ventosa sind es noch
zehneinhalb Kilometer bis Nájera, meinem ersten Etappenziel. Sich am ersten
Wandertag gleich über dreißig Kilometer aufzuhalsen geht ja noch, aber diese
größtenteils in der Mittagshitze zu laufen — furchtbar! Etwa fünfundvierzig
Minuten hinter Ventosa durchqueren wir das berühmte Tal, in dem unzählige
Steinmännchen stehen, aufgeschichtet durch ebenso unzählige Pilger. Da ich
überwiegend mit Schwitzen und Keuchen beschäftigt bin, verzichte ich darauf,
ein eigenes Steinmännchen zu bauen. Die letzten Kilometer nach Nájera lege ich
gemeinsam mit Avril zurück. Während sie mir bemerkenswerte Dinge aus ihrem
Leben erzählt, versuche ich weiterhin mit Ach und Krach, meine dürftigen
Englischkenntnisse aufzupolieren.
    »Ich habe immer gedacht, mein
Englisch sei viel zu schlecht, um sich vernünftig zu unterhalten«, erkläre ich
Avril.
    »Unsinn«, winkt sie ab, »Maori,
dein Englisch ist fantastisch.«
    »Siehst du«, sage ich, »meine
Sprachkenntnisse waren nie das Problem. Ich hatte einfach nur Angst davor,
etwas Falsches zu sagen.«
    »Ganz genau, Maori. Dein
Englisch ist nicht perfekt. Aber ich verstehe dich hervorragend. Und wozu
sprechen wir? Um uns unserem Gegenüber mitzuteilen. Du musst einfach reden, und
wenn dich jemand verstehen will, wird er es auch.«
    Klingt logisch, ist es auch.
Allerdings wissen wir ja alle, dass das Leben voller logischer Aspekte ist, die
vergeblich darauf warten, beachtet zu werden, jedenfalls sind ihre Worte Balsam
für meine seit der Schulzeit durch eine grässliche Englischlehrerin geschundene
Linguistikseele. Und wie es der Zufall will, ist Avril — na klar — Englischlehrerin.
    Kurz vor Nájera bekomme ich
erste muskuläre Probleme, nämlich empfindliche Schmerzen am linken Mittelfuß.
Entsprechend müssen wir unser Lauftempo verlangsamen. Als wir so vor uns
hintrödeln, entdecken wir auf einer Mauer am Wegesrand ein deutsches
Pilgerlied. Jetzt kann ich mich linguistisch so richtig beweisen und übersetze
Avril den gesamten Text. Nur hätte ich das gar nicht tun müssen, denn wenige
Meter weiter steht der gesamte Text auch noch auf Englisch und auf Spanisch.
Immerhin bescheinigt Avril mir gewisse Dolmetscherqualitäten.
    Gegen achtzehn Uhr trudeln wir
endlich in Nájera ein. An einer großen T-Kreuzung stoßen wir auf Michelle,
Melanie und die junge Koreanerin — ihren Namen konnte ich leider immer noch
nicht ermitteln. Michelle nennt sie »Ang Lee«, aber ich mag nicht so recht daran
glauben, dass eine junge koreanische Pilgerin genau den gleichen Namen trägt
wie ein alter taiwanesischer Filmregisseur. Die drei Damen sitzen vor einer Bar
und haben sich bereits mit einem dicken, etwa fünfzigjährigen Spanier und einer
zierlichen chinesischen Wirtin angefreundet. Witzigerweise ist der physisch
robuste Spanier sturzbetrunken, und die Bitte, ob er ein Gruppenfoto von uns
schießen könne, endet im
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