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Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen

Titel: Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
Autoren: Maori Kunigo
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rückwärts gehen. Wie deprimierend.
Anschließend laufe ich an breiten, aber nur sporadisch befahrenen Straßen über
schnurgerade Bürgersteige aus der Stadt. Ich beschließe meine nagelneuen
Wanderstöcke auszuprobieren. Zunächst nur zaghaft, denn ich finde, das Laufen
mit zwei Wanderstöcken sieht bescheuert aus, wie eine typische
Zivilisationskrankheit. Doch nach nur wenigen Minuten bin ich im Rhythmus, und
da mir Sebastian den Einsatz der Stöcke eindringlich empfohlen hat, bleibe ich
zunächst einmal dabei.
    Seit etwa einer halben Stunde
werde ich von vier Pilgern eskortiert, die mal zwanzig Meter vor mir, mal
dreißig Meter hinter mir laufen. Nach einer weiteren halben Stunde habe ich mir
einen gewissen Vorsprung erarbeitet, so dass ich wieder allein über die offensichtlich
von Radfahrern und Joggern heiß geliebte Strecke wandere. An einem recht
rücksichtslos in die Natur gehämmerten Freizeitgebäude für Wochenendausflügler
kaufe ich mir zwei Flaschen Wasser. Da recht hohe Temperaturen herrschen, lege
ich in einem pittoresk schattierten Waldstück eine erste kurze Rast ein.
Erwartungsgemäß sehe ich besagte Pilgergruppe erneut an mir vorbeiziehen.
    Auf dem Weg nach Navarrete,
etwa dreizehn Kilometer von Logroño entfernt, hockt ein Bärtiger namens
Marcelino an einem Holzstand und bietet neben einem eigenen Stempel auch noch
verfaulte Äpfel und trockene Kekse an. Da er mich zur Mitnahme irgendeines
Nahrungsmittels drängt (bisher scheint er nicht sonderlich erfolgreich gewesen
zu sein), leihe ich mir einen der verschrumpelten Äpfel aus und gebe ihn wenige
Meter weiter der Natur zurück. Die ersten Kilometer meines Camino sind recht
hügelig und geprägt von Weinfeldern mit prächtig behängten Reben. Obwohl es
ziemlich heiß und staubig ist, fühle ich mich fit und gewappnet — für was auch
immer. Nach der Wanderung durch die Natur geht es einige Kilometer entlang der
Autovía del Camino de Santiago, der A-12. Hört sich spektakulär an, ist aber an
sich nur eine hässliche spanische Autobahn. Eva Herman würde ihr sicherlich
etwas Positives abgewinnen, mich begeistert sie nur bedingt. Entlang des
Maschendrahtzauns, der den Camino von der autovía trennt, hängen
Hunderte improvisierter Kreuze aus Zweigen, Papier oder Stroh. Spätestens jetzt
merkt man, dass man hier nicht auf irgendeinem beliebigen Fernwanderweg
unterwegs ist.
    Irgendwann verliere ich die
Pilger von vorhin aus den Augen. Mit dem Gefühl, als allerletzter Nachzügler
allen anderen Pilgern hinterherzulaufen, geht es über einen staubtrockenen
Feldweg nach Navarrete, vorbei an der Ruine eines mittelalterlichen
Pilgerhospitals. Als ich aus einer schmalen Gasse trete, treffe ich die
Pilgergruppe wieder. Es handelt sich um einen Zusammenschluss von vier Frauen
offenkundig unterschiedlicher Herkunft und breiten Altersspektrums. Nebeneinander
hocken sie auf einer Sitzbank und lüften ihre Schuhe. Kurz überlege ich, sie
einfach zu passieren. Die meisten Männer hätten Schiss vor einer vierköpfigen
Frauengruppe, oder etwa nicht? Dann fällt mir ein Glückskeksspruch ein, der mir
vor zwei Monaten auf einer Geburtstagsfeier in die Hände gefallen ist: »Sie
sind sehr reiselustig und kontaktfreudig.« Als bemerkenswert empfand ich das
Timing. Gerade als ich drauf und dran war den Mut zu verlieren, begegnete mir
ein Satz, dessen Inhalt nicht ansatzweise auf mich zutraf, aber genau den
Soll-Zustand beschrieb. Also gut. Ich werfe meine Ängste über Bord, nehme all
meinen Mut zusammen (ich weiß, es ist schwer nachvollziehbar, wieso mich solch
eine Kleinigkeit derartige Überwindung kostet) und spreche sie an. Genau in
diesem Moment fällt mir auf, dass die eine ältere Dame einen auffälligen weißen
Hut trägt, der mir ziemlich bekannt vorkommt. Das ist doch die strenge Frau
Generalin, die meine Schuhe aus dem Schlafraum verbannen wollte! Was für ein
merkwürdiger Zufall. Nun ja, so in freier Natur macht sie einen viel netteren
Eindruck. Avril, so heißt sie, ist dreiundsechzig und kommt aus... ja, woher
denn nun? Ihre Mutter ist Britin, ihr Vater zu fünfzig Prozent deutschstämmig,
sie ist in den USA aufgewachsen und lebt jetzt in San Sebastian. Sie spricht
neben Englisch ein sehr passables Spanisch, wie ich aus eigener Erfahrung zu
berichten weiß, und ungefähr zehn deutsche Wörter, darunter »Scheiße«. Ihr Haar
trägt sie grau und kurz, meist bedeckt von ihrem markanten weißen Hut, dazu
eine adrette Brille und eine weiße
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