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Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss
Autoren: Patricia Schroeder
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Ganz kurz nur nickte sie weg, dann war sie mit einem Schlag hellwach. Sie saß kerzengerade im Bett und starrte zum Fenster.
    Es stand auf Kipp, die Gardinen waren aufgezogen, und der Straßenlärm hallte herauf. Draußen war es immer noch so neblig wie in der Nacht zuvor.
    »Ich hab sie doch zugezogen«, murmelte Jolin. Und das Fenster hatte sie ebenfalls geschlossen. Gestern Nacht, nachdem dieses Auto davongerast war, das hatte sie doch nicht geträumt. Nein, ganz sicher nicht. Jolin warf einen Blick auf das Buch und den zusammengelegten Pulli auf dem Stuhl neben dem Fenster. Das mit den Gardinen musste Ma gewesen sein.
    Jolin schüttelte lächelnd den Kopf. Typisch! Ihre Mutter war genau das Gegenteil von ihr. Ein Tagmensch. Extrovertiert, lebendig, fröhlich, sie konnte es nicht verstehen, dass man freiwillig den halben Vormittag verschlief. Paula Johansson war immer schon früh wach und stand wochentags um halb sieben frisch geduscht und allerbestem gelaunt in der Küche, um für sie alle das Frühstück zu bereiten. Bestimmt war auch jetzt schon das Klappern des Geschirrs zu hören. Jolin hob das Kinn, lauschte und lächelte abermals. Es war ein gutes Gefühl, so früh am Morgen so gut aufgehoben zu sein, zu einer Zeit, in der man selbst noch nicht wirklich auf der Höhe war. Der Wecker zeigte auf zehn vor sieben. Dann war Pa bestimmt noch im Bad.
    Jolin nahm das Buch vom Nachttisch und legte sich aufs Kissen zurück. Bevor sie die Seiten beim Lesebändchen aufschlug, strich sie mit den Fingerspitzen über den Deckel. Schwarzer Samt außen, rotes Blut innen. Ein altmodischer Vampirroman, Anna würde sich totlachen, wenn sie wüsste, dass Jolin jetzt so etwas las.
    Das Buch hatte sie aus dem Antiquariat gegenüber der Schule. Es war ihr sofort aufgefallen. Ohne hineinzusehen, hatte sie es zwischen den anderen hervorgezogen und eine Weile wie verzaubert dagestanden, so verführerisch hatte sich der schwarze Samt zwischen ihren Fingern angefühlt. Schließlich war Jolin damit zum Tresen gegangen und hatte es wie immer bei Herrn Lechtewink bezahlt. Sie hatte es in ihre blaue Umhängetasche gesteckt, es eine Zeit lang mit sich herumgetragen und nicht gewagt, es noch einmal zu berühren. Das seltsam streichelnde Gefühl, das der Einband an ihren Fingerspitzen hinterlassen hatte, hatte ihren Puls zum Vibrieren gebracht. Nach zwei Monaten endlich hatte Jolin das Buch dann doch herausgenommen und erneut festgestellt, dass es sich einfach nur schön anfühlte. Zögernd hatte sie angefangen zu lesen und sich in die Geschichte hineinziehen lassen. Jolin las langsam, einige Stellen mehrmals, manchmal begann sie sogar mittendrin noch einmal von vorn. Immer wieder schlug sie das Buch zu und strich über den Einband, bevor sie sich aufs Neue vom Schicksal der Baronesse einfangen ließ und mit ihr zusammen ihre Geschichte erlebte.
    Plötzlich klopfte jemand an die Tür, und Jolin ließ erschrocken das Buch sinken.
    »Bist du wach?« Es war die Stimme ihres Vaters.
    »Ja!«, rief Jolin. »Ja, ich bin wach.«
    Sie schlug das Buch zu und schob es unters Kopfkissen. Dort lag es tagsüber, alles war schön glatt gestrichen, die gequiltete Tagesdecke sorgsam übers Bett gelegt, niemand würde auf die Idee kommen, darunter nachzuschauen.
    Jolin sprang unter die Dusche, schlüpfte in Jeans und Pulli, fasste die dunkelblonden Haare wie gewohnt zum Nackenzopf zusammen und setzte sich in die Küche. Es roch nach Kaffee, Toast und Eiern.
    »Was möchtest du?«, fragte Paula.
    »Nichts, Ma«, sagte Jolin. »Nur ein Glas Milch.«
    »Ich wärm sie dir auf«, sagte ihre Mutter. Paula machte das gem. Sie war immer froh, wenn sie etwas tun konnte, egal was, am liebsten für andere.
    »Und Pa?«, fragte Jolin.
    »Ist schon los«, sagte Paula, während sie den Milchtopf füllte und auf den Herd stellte. Ihre dunklen Locken glänzten im Schein der Halogenstrahler unter den Hängeschränken. »Du weißt doch, das Weihnachtsgeschäft. Sie müssen das Lager vollhalten.«
    »Jetzt schon? Es ist doch erst November«, sagte Jolin. Sie war nicht oft in der Stadt. Shoppen bedeutete ihr nichts. Die großen Läden waren ihr zu laut und viel zu vollgestellt.
    »Ich würde gerne wegfahren über Weihnachten«, sagte sie.
    Paula sah sie überrascht an. »Ach ja? Und wohin?« Sie stützte ihre Hände lässig auf die schmalen Hüften und zog erwartungsvoll die Brauen hoch.
    Am liebsten nach Norden, wo Pa herkam, dorthin, wo es den ganzen Winter über dunkel blieb.
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