Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss
Autoren: Patricia Schroeder
Vom Netzwerk:
sich mittlerweile nicht einmal mehr auf dem Schulweg trafen.
    Die U203 fuhr ein, als Jolin gerade mitten auf der Rolltreppe war. Sie rannte los, nahm zwei Stufen auf einmal und erreichte die hintere Tür. Sie schlüpfte in den überfüllten Zug, umfasste die nächstbeste Haltestange, schloss kurz die Augen und schöpfte Atem. Die Bahn fuhr an, Jolin verlor das Gleichgewicht und fiel gegen einen großen Mann im Wintertrench. Sie entschuldigte sich, was er nickend zur Kenntnis nahm.
    Die Lichter der U-Bahn-Station, die grünen Kacheln an den Wänden, die Menschen auf den Bahnsteigen glitten vorbei, und kurz bevor sie in die Dunkelheit des Schachtes eintauchten, sah sie ihn, einen blassen Typen mit breiter Sonnenbrille und blutroten, fast schwarzen Lippen, der an einer Säule lehnte und seltsam lächelnd ins Leere starrte. Er trug eine schwarze Jeans, einen schwarzen Mantel und einen schwarzen Lederhut. So vollkommen unwirklich erschien er Jolin, dass sie noch einmal die Augen schloss und den Kopf schüttelte, aber da ratterte der Zug bereits durch den Schacht, und das Bild war verschwunden.
    Der Typ hatte sie an Victor Kischinescu erinnert, den Vampir aus ihrem Buch, der hinter dem Blut der Baronesse her war, es begehrte wie kein anderes. Himmel nochmal! Jolin reckte unauffällig ihre Muskeln und gähnte in ihren Schal. Sie musste endlich richtig wach werden, sie brachte ja wirklich alles durcheinander.
    »Du spinnst!«, hörte sie Anna schon sagen und lachen. Dabei wusste ihr eigener glasklarer Verstand nur zu gut, dass es in einer westdeutschen Großstadt, Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts, keine Vampire gab, die lächelnd in U-Bahn-Stationen herumstanden.
    Jolin schaute an dem Mann im Trench vorbei in die Dunkelheit, die draußen vorbeirauschte. Vielleicht sollte sie doch nochmal versuchen, mit Anna zu reden. So richtig hatte sie es bisher nicht getan, es eher still akzeptiert, dass ihre bisher einzige Freundin nun zu Klarisse gehörte. Anna wohnte nur eine Querstraße weiter als sie, Klarisse am anderen Ende der Stadt. Wahrscheinlich würden die beiden sich außerhalb der Schulzeit gar nicht so oft sehen. Manchmal vielleicht zum Shoppen und am Wochenende dann ins Kino oder in eine Disco. Was sprach dagegen, weiter mit Anna Referate zu erarbeiten und für Bioklausuren zu büffeln? Und vielleicht ab und zu in Buchläden zu stöbern oder irgendwo gemütlich zusammen einen Kaffee zu trinken und wie früher über Gott und die Welt zu reden?
    Jolin reckte den Kopf heraus und umfasste entschlossen die Haltestange. Die nächste Station war Lessingallee, dort musste sie aussteigen. Der Mann im Trench trat zur Seite und nickte ihr freundlich zu, als sie an ihm vorbei auf den Bahnsteig trat. Auf einem anderen Gleis fuhr gerade ein Zug aus der Gegenrichtung ein. Die Türen öffneten sich, und die Menschen quollen heraus. Jolin bemerkte Klarisse und Rebekka mit den kurzen blonden Haaren und der Stupsnase, die lachend zur Rolltreppe hetzten. Klarisse’ lange schwarze Haare tanzten auf ihrem Rücken. Jolin drückte das Kinn in ihren Wollschal und verzögerte ihren Schritt. Sie wartete, bis Klarisse und Rebekka hinaufgeglitten und verschwunden waren, erst dann eilte sie ebenfalls auf die Rolltreppe zu. Sie legte ihre Hand auf das schwarze Handlaufgummi und blickte angespannt nach oben. Vielleicht hatten die beiden sie ja auch bemerkt und nicht über irgendetwas, sondern über sie gelacht, und fingen sie nun dort ab, direkt am Fußgängertunnel, der zur Lessingallee hinüberführte.
    Du bist j a verrückt, dachte Jolin. Sie versuchte über ihre absurden Gedanken zu grinsen, aber es gelang ihr nicht. Mit einem Mal spürte sie etwas an ihrer Hand - etwas Feines, Weiches, wie die Federn eines Vogels oder das Fell einer kleinen Maus. Erschrocken zog Jolin ihre Finger zurück. Sie vernahm ein Flügelschlagen und einen Schatten, der sich über die Köpfe der hinaufeilenden Menschen auf der Treppe neben ihr erhob. Jolin riss ihren Kopf hoch, doch da war nichts, und dann sah sie plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde nur, einen schwarzen Mantel und einen Lederhut, die hinter der weit schwingenden roten Jacke einer jungen Frau in die Menschenmenge hineintauchten und aus ihrem Blickfeld verschwanden.
    Unmöglich, durchfuhr es Jolin. Wie sollte der so schnell hierhergekommen sein? Er hatte an der Säule gelehnt. Er konnte gar nicht in ihren Zug gestiegen oder mit einer anderen Bahn am selben Bahnsteig angekommen sein. Das war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher