Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss
Autoren: Patricia Schroeder
Vom Netzwerk:
 
1
    Ramalia stolpert durch den Wald. Es ist stockfinster, der Himmel ohne Sterne und ohne Mond. Sie sieht die Hand vor Augen nicht, tastet sich langsam von Baum zu Baum und zählt dabei ihre Schritte, um die Zwischenräume abzumessen. Ramalia sucht die Lichtung, den Punkt, von dem aus man die Stadt überblicken kann. Dort wird sie Harro wittern. Sie wird ihn finden und ihm endlich alles sagen. Nur noch ein paar Wochen, und es wird vorbei sein. Dann ist sie hoffentlich gerettet. Sie und das Kind. Zumindest vorläufig. Sie muss ihn nur rechtzeitig finden und — für alle Fälle - ihr Pfand hinterlegen, und zwar solange es noch so dunkel und die Nacht vollkommen mondlos ist.
     
    Unten auf der Straße heulte ein Motor auf, Reifen quietschten, dann schoss ein Auto los und raste mit überhöhter Geschwindigkeit über das Kopfsteinpflaster. Jolin blickte von ihrem Buch auf zum Fenster. Es war gekippt, und die Gardine wehte leicht hin und her, obwohl es draußen völlig windstill war. Wie absurd, dachte sie und schüttelte lächelnd den Kopf, denn sie wohnten ganz oben im vierten Stockwerk.
    Behutsam legte Jolin das Lesebändchen zwischen die Seiten. Das Buch war schon alt und das Bändchen porös und ausgefranst. Sie klappte es zu, schob es auf den Nachttisch und strich noch einmal über den samtigen, schwarzen Einband, bevor sie vom Bett aufstand. Es war kühl im Zimmer, sie würde besser das Fenster schließen.
    Jolin schaute auf die Straße hinunter. Das Pflaster war feucht vom Nebel, und die Lichter der Laternen sahen aus wie Pusteblumen. Pusteblumen im November. Wieder musste sie lächeln. Auch das war absurd.
    Plötzlich ertönte ein Flügelschlagen, und im nächsten Augenblick erhob sich ein Vogel von der Dachrinne. Er warf einen breiten Schatten über Jolins Gesicht und segelte auf die gegenüberliegende Häuserreihe zu. Ein Käuzchen, dachte Jolin. Ein Käuzchen mitten in der Stadt. Sie wunderte sich noch, da wurde seine Gestalt bereits vom Nebel und der Dunkelheit verschluckt.
    Jolin fröstelte. Energisch schloss sie das Fenster und zog die Gardine zu. Eigentlich hatte sie keine Lust mehr auf eine Nachtwäsche. Wenigstens die Zähne, ermahnte sie sich, streifte widerstrebend den Pulli über den Kopf, faltete ihn sorgsam zusammen und legte ihn auf den Stuhl, der neben dem Fenster stand. Hastig schlüpfte Jolin in ihr Flanellnachthemd und tappte in den Flur hinaus.
    In der Wohnung war es dunkel und still. Sie hatte also wieder einmal bis nach Mitternacht gelesen. Kein Wunder, dass es so kühl im Zimmer war, die Heizung musste sich bereits heruntergefahren haben. Der Hausbesitzer
    hatte sie entsprechend einstellen lassen, was Jolins Eltern durchaus recht war, da sich der geringere Energieverbrauch auf die Nebenkosten niederschlug. Jolin selbst hätte es nachts lieber ein wenig länger warm gehabt. Auch wenn sie ausnahmsweise einmal nicht las, sie war einfach ein Nachtmensch, eine Eule, die vor ein Uhr nicht einschlafen konnte und morgens schlecht aus den Federn kam.
    Im Badezimmer gab es einen Heizlüfter. Jolin schaltete ihn ein und putzte sich die Zähne. Innerhalb kürzester Zeit war es mollig warm in dem kleinen Raum. Jolins Unlust verschwand. Sie wusch ihr Gesicht, cremte es sorgfältig ein und löste den Nackenzopf. Hundert Bürstenstriche, und das volle dunkelblonde Haar glänzte im Schein der Spiegelbeleuchtung. Außer ihren ausdrucksvollen Augen war es das Einzige an Jolin, was auffallend hübsch war. Ihre schmale Taille blieb meistens unter dicken Pullovern oder weiten Blusen verborgen, und sie mochte auch keine Schminke, denn sie verstand es ohnehin nicht, damit umzugehen.
    »Du solltest Kajal nehmen«, hatte Anna vorgeschlagen. »Ein dunkles Gold, das passt gut zu dem tiefen Blau deiner Augen. Ganz bestimmt, Jolin, probier es doch einfach mal aus!«
    So war Anna immer. Überschwänglich. Und natürlich hatte Jolin ihr den Gefallen getan und sich von ihr schminken lassen. Es hatte auch richtig gut ausgesehen, aber Jolin war sich schrecklich fremd vorgekommen, also hatte sie es bei diesem einen Mal belassen.
    Wie fast immer dachte sie auch an diesem Abend darüber nach, ob es wohl daran gelegen hatte, dass ihre Freundschaft allmählich auseinandergegangen war. Inzwischen gehörte Anna zur Clique um Klarisse. Für Jolin hatte sie seitdem keine Zeit mehr. Wenn man das so nennen wollte …
     
    Nach dem Weckerklingeln am nächsten Morgen hatte Jolin sich noch einmal umgedreht und war wieder eingeschlafen.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher