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Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss
Autoren: Patricia Schroeder
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Taube. Und es war auch niemand im Zimmer.
    »Du hast geträumt«, murmelte sie. »Geträumt. Weiter nichts. Das hast du nun davon, dass du so ein Geschiss um das Buch machst.«
    Sie beugte sich zum Nachttisch hinüber und knipste die Lampe an. Ihr helles warmes Licht fiel auf die Quiltdecke und den blauen Teppich. Jolin atmete tief durch. Nur geträumt, sonst nichts. Das Unbehagen und die Angst der Baronesse aus dem Buch in sich aufgesaugt und ihn - Victor - durch ihre Augen gesehen. Nichts anderes. Alles ganz normal.
    Dennoch reichte Jolin die Helligkeit, die die Nachttischlampe verbreitete, nicht aus. Sie sprang vom Bett und schaltete das Deckenlicht und die Arbeitsleuchte auf ihrem Schreibtisch ebenfalls ein. Ihr Herz klopfte laut und wollte sich einfach nicht beruhigen.
    »Was liest du auch für einen Schrott, verdammt nochmal!« Voller Wut packte sie das Buch und stopfte es in ihre Umhängetasche. Sie würde es zurückbringen, gleich Morgen, nicht mehr weiterlesen, und die Baronesse, Victor und die anderen Vampire, diesen ganzen Schwachsinn, einfach vergessen. Vielleicht würde Herr Lechtewink, der Inhaber des Antiquariats, das Buch eintauschen gegen einen leichten Sommerroman, einen kitschigen Liebesroman oder irgendetwas in der Art. Ja, bestimmt würde er das tun. Er war doch immer sehr nett und zuvorkommend gewesen.
    Okay, okay, okay. Noch einmal schloss Jolin für ein paar Sekunden die Augen und versuchte ein neues Programm zu starten. Die Inhaltsangabe für Englisch. Logarithmen. Die veränderte Zellteilung bei Krebserkrankungen. Es gab noch jede Menge zu tun. Jolin zog die Vorhänge zu, setzte sich an den Schreibtisch und holte ihre Unterlagen heraus. Sie arbeitete zweieinhalb Stunden mit voller Konzentration. Danach ging es ihr besser.
     
    Um kurz vor acht klopfte es an Jolins Zimmertür.
    »Sitzt du immer noch an deinen Schularbeiten?«, fragte Gunnar Johansson.
    Jolin schob ihre Unterlagen zusammen. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, drückte ihre Schulterblätter zusammen und gähnte. »Nein«, sagte sie. »Ich bin gerade fertig geworden. Was ist denn, Pa?«
    »Darf ich hereinkommen?«
    »Klar.« Jolin stand vom Stuhl auf, lief auf ihre Zimmertür zu und öffnete sie.
    Niemals wäre ihr Vater auf die Idee gekommen, es selbst zu tun. Immer wartete er so lange, bis sie ihn hereinließ. Nach seinem eigenen Bekunden hing dieses Verhalten damit zusammen, dass in seiner Jugend und seinem Elternhaus diesbezüglich völlig andere Sitten geherrscht hatten. Gunnar Johansson war der Zweitälteste von acht Geschwistern, fünf Mädchen und drei Jungen. Zwar hatten seine große Schwester Inger und er als Einzige eigene Zimmer gehabt, waren dort aber nie wirklich ungestört gewesen.
    »Hi, Pa«, sagte Jolin. Sie zog ihn ins Zimmer und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Wie geht es dir? Sind die Weihnachtsvorbereitungen in eurem Laden sehr anstrengend?«
    »Och, na ja, wie immer eigentlich. Nichts Besonderes.« Gunnar strich sich durch den Vollbart und lächelte. »Und bei dir?«
    »Auch nichts Besonderes«, sagte Jolin. »Kurz vor Weihnachten schreiben wir die letzten beiden Klausuren. Ich habe also noch ein bisschen Zeit zum Lernen.«
    Ihr Vater nickte. Er war groß und kräftig, und unter seinem Hemd wölbte sich ein kleiner Bauch. Seine ehemals dichten blonden Haare waren mittlerweile grau und über der Stirn schon recht schütter. Seine Augen waren groß und blau und hatten immer noch einen kindlichneugierigen Ausdruck, und auf der schmalen langen Nase trug er eine halbrunde Brille mit Silbergestell. Jolin fand, dass er gut aussah, obwohl er im allgemeingültig klassischen Sinn wohl als eher wenig attraktiv gelten mochte.
    »Nach der Tagesschau kommt ein sehr schöner Film«, sagte er. »Die Farbe Lila.«
    »Oh«, sagte Jolin. »Ich glaube, den habe ich schon mal gesehen. Bei Anna auf DVD.«
    Wieder nickte Gunnar, und Jolin bemerkte, dass er seinen Blick suchend auf ihren Nachttisch geheftet hatte. »Liest du im Moment gar nichts?«
    »Nein«, sagte Jolin schnell, ein wenig zu schnell, aber ihr Vater schien es nicht registriert zu haben oder seine Diskretion veranlasste ihn, sich nichts anmerken zu lassen. »Im Augenblick nicht.« Sie schöpfte ein wenig Atem. »Ich habe alles ausgelesen«, fuhr sie in leichtem Tonfall fort und umfasste Gunnars Arm mit beiden Händen. »Morgen werde ich mir etwas Neues besorgen. Vielleicht finde ich was Schönes im Antiquariat. Und wenn nicht, leihe ich mir eben etwas
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