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Vollmondkuss

Titel: Vollmondkuss
Autoren: Patricia Schroeder
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persönlicher Schätzwert.« Ihre Wangen glühten rosig, und ihre dunklen Augen strahlten.
    Sie sieht richtig gut aus, dachte Jolin überrascht. So jung, so lebendig, eben so ganz anders als sie selbst. Hastig senkte sie den Kopf. »Und was ist mit Pa?«, fragte sie, während sie etwas Gemüse unter den Reis mischte. »Lässt du dich von ihm auch nicht mehr beeinflussen?«
    »Von niemandem«, sagte Paula. »Also auch nicht von Gunnar. Aber ich vermute, das findet er vollkommen in Ordnung. Dein Vater gehört zu der seltenen Spezies jener Menschen, die die anderen einfach so lassen können, wie sie sind.«
    Jolin pustete auf ihre Gabel und nickte. Tatsächlich hatte ihr Vater auch ihr noch nie groß in irgendetwas hineingeredet. Er war schon immer ein guter Ratgeber gewesen, ein brillanter sogar, der es nicht nur verstand, so genau zuzuhören, dass er auch die leisesten Zwischentöne mitbekam, sondern es immer wieder schaffte, für jedes Problem die optimale Lösung zu entwickeln. Und zwar so, dass man jedes Mal das Gefühl hatte, ganz von allein darauf gekommen zu sein. Jolin liebte ihren Vater über alles, aber manchmal war er ihr wegen dieser Eigenschaft fast ein bisschen unheimlich.
    Das ganz normale ayurvedische Gericht schmeckte absolut köstlich. Nachdem Jolin sich noch zweimal nach-genommen hatte, wischte sie sich leise stöhnend die Mundwinkel aus. »Ich glaube, das ist ein bisschen zu viel gewesen«, meinte sie stöhnend. »Aber es war so wahnsinnig lecker!«
    »Danke«, sagte Paula. Sie tätschelte ihrer Tochter die Hand. Dann stand sie auf und stellte die leer gegessenen Teller und den Wok auf die Anrichte. »Mir hat es auch sehr gut geschmeckt. Das koche ich bestimmt mal wieder. «
    »Jetzt lass doch«, sagte Jolin, als Paula ihr die Töpfe, nach denen sie gerade gegriffen hatte, aus der Hand nehmen wollte. »Du musst doch nicht alles machen.«
    »Das weiß ich«, erwiderte Paula. »Ich tu ’s aber gern.«
    »Du bist wirklich ein besonderes Exemplar«, sagte Jolin, während sie ihrer Mutter kopfschüttelnd die beiden Töpfe überließ. »Eins, das nicht bloß selten ist, sondern eigentlich schon längst ausgestorben sein müsste.«
     
    Jolin war so satt, dass sie sich erst einmal hinlegen musste. Es war früh am Abend, sie würde später noch genug Zeit für ihre Hausaufgaben haben. Ohnehin würde sie wieder bis Mitternacht wach bleiben. Nachdem sie heute Morgen so jäh aus ihrer Tageseinstiegsträgheit, wie sie dieses Phänomen selber gerne nannte, gerissen worden war, würde ihr ein kurzes Schläfchen bestimmt guttun.
    Um es bequemer zu haben, zog Jolin ihre Jeans aus und legte sie sorgfältig über den Stuhl am Fenster. Dann schlüpfte sie in eine weite Nickihose und warf sich aufs Bett. Unter dem Kopfkissen fühlte sie das Buch. Jolin zog es hervor und strich über den Einband.
    Du bist wirklich albern, dachte sie, spottest über die plötzliche Mondphaseneuphorie deiner Mutter und verheimlichst ihr, dass du ein Buch über Vampire liest! Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. Morgen erzählst du es ihr einfach, dachte sie. Aber irgendetwas in ihr sperrte sich dagegen. Es war ein seltsam klares und dennoch unerklärliches Gefühl, das ein leichtes Unbehagen in Jolin aufsteigen ließ. Schnell schob sie das Buch auf den Nachttisch und versuchte jeden Gedanken an seinen Inhalt zu verscheuchen. Sie löschte das Licht, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Muskeln in ihren Armen und Beinen, die sich nun allmählich entspannten.
    Es war dämmrig, so wie Jolin es liebte. Dämmrig und still, bis auf das Brummen des Verkehrs unten auf der Straße, was sie jedoch nicht weiter störte, sie hatte sich längst daran gewöhnt. In der Ferne heulte ein Hund, und über dem Fenster flatterte eine Taube. Genau wie gestern Nacht dieses Käuzchen, dachte sie noch, dann stand er plötzlich vor ihr: Blass und schwarzhaarig mit funkelnden Augen, die von dunklen Schatten umgeben waren. Seine Eckzähne waren ein wenig spitzer und länger als gewöhnlich, und seine Lippen schimmerten hellrot, so als ob er gerade Blut aus einer Wunde gesaugt hätte. Sein pechschwarzer Umhang wehte leicht im Wind.
    Du hast schon wieder das Fenster offen gelassen, durchfuhr es Jolin. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Hellwach blickte sie zum Fenster. Es war geschlossen. In seiner Scheibe brachen sich die Lichter der vorbeifahrenden Autos. Jolin hörte das Brummen des Verkehrs und ihren leise keuchenden Atem. Aber keinen Hund und keine
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