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Voellig durchgeknallt

Voellig durchgeknallt

Titel: Voellig durchgeknallt
Autoren: Ally Kennen
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solche Sehnsucht nach ein bisschen Zuspruch, dass ich diese Vorschrift umgehe und Ihnen sofort zurückschreibe. Unsereiner lebt hier unter solchen Bedingungen, dass man schwankt zwischen Albträumen und dem Wunsch, alles zu vergessen, und Ihr reizender Brief hat viel dazu beigetragen, mein Interesse an der Welt, die mir nun verschlossen ist, wieder aufflammen zu lassen. Ich finde, jetzt schulden Sie mir aber gleich zwei Briefe (um der Zweibriefevorschrift zu genügen) – also erzählen Sie mir noch mehr! Chas, meine Liebe, setzen Sie sich auf den Hosenboden
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und berichten Sie mir alles, was Sie so erleben. Herrlich unterhaltsam, was Sie über Ihre Familie berichten.
    Besonders über Mark, der ja ein rechter Musterknabe zu sein scheint. Ich finde es schade, dass es von der Sorte heutzutage nicht mehr viele gibt. (Natürlich kann ich mich da irren.) Beruhigend auch, dass er offenbar ein gutes Verhältnis zu seiner Freundin hat. Leichtsinn und Flatterhaftigkeit sind bedauerlicherweise oft typisch für junge Frauen, da ist es nur vernünftig, dass Sie ein Auge auf die Kleine haben. Oh, da fällt mir ein, heißt sie mit Nachnamen nicht Tuby oder Juby? Es war ein bisschen undeutlich geschrieben. Da ich mal jemanden namens Tuby kannte, der aus Ihrer Gegend war   …
    Besonders gefreut hat mich, dass Sie Engländerin sind, denn es ist mein heimlicher Traum, eines Tages wieder heimzukehren. Ich bin mir natürlich bewusst, dass sich solche Träume jetzt erledigt haben. Sekunde um Sekunde rückt mein Tod näher. Bald hat mein letztes Stündlein geschlagen. Ach, Sie klingen so nett und herzlich, Chas, dass ich unbedingt wieder von Ihnen hören möchte. Legen Sie einfach los und lassen Sie mich an Ihrem Leben teilhaben.
    Der Ausdruck »aufrichtig« ist zwar ein wenig unüblich, aber er gefällt mir, darum übernehme ich ihn. Aufrichtig, Ihr
    Lenny Darling
     
    PS: Um Ihre Frage zu beantworten: Ich versuche immer noch, meine Unschuld zu beweisen.
     
    |34| Will der Typ meine Mutter anmachen? (Obwohl er ja genau genommen nicht ihr schreibt.) Heißt das, dass er eigentlich mich anmacht? Er steht drauf, wie ich schreibe. Bin ich dann schwul? Oder kann ich mich bloß super verstellen? Wie hat er sich ausgedrückt?
Sie klingen so nett und herzlich
… Igitt. Ich weiß nicht, ob ich zurückschreiben soll. Aber wenn nicht, kriege ich vielleicht Gewissensbisse. Anscheinend geht es ihm echt dreckig. Wenn ich im Todestrakt sitzen würde, würde ich mir was ausdenken, wie ich abhaue. Ich war auch schon mal eingesperrt und hab’s geschafft abzuhauen. Natürlich nicht aus einem amerikanischen Hochsicherheitstrakt. Ich war erst sieben oder acht und wohnte bei so ’nem Ehepaar, Midge und Guy, und ihren vier Kindern. Superkorrekte Leute, die haben ihre Marmeladengläser für die Wertstoffsammlung rausgestellt und sind mit uns zum Pizza Express gefahren statt zu McDonald’s. Jedenfalls, wenn ein Kind mal ungezogen war, haben sie es auf dem Dachboden eingesperrt. Mich auch. Die von der Fürsorge hatten ihnen gesagt, sie sollen mich wie eins ihrer eigenen Kinder behandeln. Daran haben sie sich gehalten. Mir wär’s ja lieber gewesen, sie hätten mich wie einen Dauergast behandelt. Ich war öfter auf dem Scheißdachboden als sonst wo. Sogar im Winter. Im Winter ist es unterm Dach schweinekalt.
    Da oben hing bloß eine nackte Glühbirne an einem Kabel von der Decke, und es gab auch keinen vernünftigen Boden, sodass man nicht rumlaufen konnte. Mein ätzender Pflegevater Guy hatte aus Sperrholz ein kleines Podest zusammengezimmert. Da drauf waren lauter alte Koffer, verbeulte |35| Tennisschläger, kaputte Fernseher und anderer Schrott gestapelt. Der freie Platz reichte grade aus, dass ich meine mageren Arschbacken draufpflanzen konnte. Ich weiß noch, wie ich auf Zehenspitzen auf einem Koffer gestanden bin und durch das winzige Oberlicht nach Flugzeugen Ausschau gehalten habe. Was anderes gab’s dort nicht zu tun. Aber ich hab immer bloß Tauben gesehen. Vor lauter Langeweile hab ich in den Koffern gekramt, aber da waren bloß olle, muffige Männerklamotten drin. Ich hab alle Taschen durchgewühlt, allerdings nur ein bisschen Kleingeld und eine zerknitterte Pfundnote (krass!) gefunden und haufenweise vollgerotzte Papiertaschentücher.
    Die haben mich ganz schön oft da hochgeschickt. Manchmal eine ganze Stunde, was ziemlich lang ist, wenn man grade mal acht ist und gern unter Leuten wie ich. Gemein, oder? Jedenfalls bin ich einmal
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