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Virga 01 - Planet der Sonnen

Titel: Virga 01 - Planet der Sonnen
Autoren: Karl Schroeder
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nur ganz oben einen Spaltbreit offen war. Hin und wieder wurde er von einem Fenster mit geschlossenen Läden unterbrochen, aber Hayden blieb vor keinem davon stehen. Er strebte einer offenen Galerie zu, die ein Stück weiter oben an der Straße lag.
    In solchen Momenten - wenn er allein war und viel zu tun hatte - vergaß er sich entweder völlig, oder er versank in Trauer. Der Tod seines Vaters lastete noch immer schwer auf ihm, obwohl inzwischen ein Jahr vergangen war; wohnte er mit seiner Mutter wirklich schon so lange hier? Mutter beteuerte ihm immer wieder, es sei die beste Lösung, zu Hause in Habitat Zweiundzwanzig wären sie ständig von Dingen umgeben gewesen, die an Papa erinnerten. Aber was wäre daran denn so schlimm?
    Sein Vater konnte das Entzünden der Sonne, die Vollendung des Projektes seiner Frau - die Krönung des Werkes seiner Familie - nicht miterleben. Wenn Hayden sich in Erinnerung rief, wie seine Eltern darüber gesprochen hatten, hörte er stets den Jubel und die Hoffnung in der Stimme seines Vaters. Mutter war stiller gewesen, aber auch ihr Stolz und ihre Liebe schwangen mit in dem Gemurmel, das nachts durch die Schlafzimmerwand drang und Hayden in den Schlaf wiegte. Eine eigene Sonne erschaffen! So wurden
Nationen gegründet. Wer eine Sonne entzündete, würde für alle Zeit im Gedächtnis bleiben.
     
    Als Hayden zwölf war, hatten ihn seine Eltern zum ersten Mal mit nach Rush genommen. Er hatte sich beklagt, weil er kurz vorher erfahren hatte, dass Slipstream zwar eine große, aber nicht seine Nation war. Seine Freunde hatten ihn verspottet, weil er das Lager des Feindes besuchte, dabei wusste er nicht einmal so genau, warum die Slipstreamer böse waren oder was es bedeutete, stattdessen Bürger von Aerie zu sein.
    »Deshalb fliegen wir hin«, hatte sein Vater gesagt. »Damit du das begreifst.«
    »Und weil ich sehen will, was man in den Prinzipalitäten zurzeit trägt«, schmunzelte Mutter. Vater sah sie finster an - ein Ausdruck, für den sein flaches Gesicht wie geschaffen schien -, aber sie beachtete ihn nicht.
    »Du wirst begeistert sein«, sagte sie zu Hayden. »Und wenn diese Freunde von dir die Sachen sehen, die wir mitbringen, werden sie vor Neid erblassen.«
    Die Vorstellung hatte ihm gefallen; dennoch hatten ihn Vaters Worte nicht losgelassen. Er sollte Rush besuchen, um zu begreifen .
    Und er glaubte zu begreifen, sobald ihr Schiff die letzte Wolkenwand durchstoßen hatte und er den ersten Blick auf die Stadt werfen konnte. Als das Licht aufflammte, schwebte er mit einigen anderen Kindern zu einem fest verriegelten Fenster - in dem kleinen Schiff gab es keine Zentrifuge, deshalb waren alle schwerelos -, hielt sich schützend die Hand vor die Augen und sah sich das Ziel ihrer Reise an.

    Im näheren Umkreis war der Luftraum von Reisenden bevölkert, einige saßen auf Bikes, andere auf seltsamen Konstruktionen mit Propellern, die durch Pedale angetrieben wurden, und manche bewegten mit den Füßen riesige weiße Schwingen, die sie sich auf den Rücken geschnallt hatten. Alle Flieger schleppten Pakete oder zogen Lasten hinter sich her, und die Kondensstreifen der Turboprops warfen ein Netz aus langsam verblassenden Schleifen und Linien über den Himmel.
    Ihre zylinderförmige Fregatte war so nahe an Slipstreams Sonne aus den Wolken aufgetaucht, dass der halbe Himmel zu einem flammenden Inferno wurde. Bereits wenige Sekunden nachdem sie den Nebel verlassen hatten, stieg im sonst eher kühlen Aufenthaltsraum des Schiffes die Temperatur an. Die anderen Jungen deuteten aufgeregt mit den Fingern und schrien; auch Hayden schaute in die angegebene Richtung, konnte aber nicht erkennen, was diesen scheinbar unmöglichen Schatten über eine volle Hälfte der Aussicht warf. Das riesige Gebilde war unregelmäßig geformt wie die Felsen, an denen sie auf dem Weg hierher vorbeigekommen waren. Doch diese Felsen waren meist so groß wie Häuser und reckten nach allen Seiten dünne Bäumchen in den Himmel, während das Ding hier in der Ferne bläulich schimmerte und von einem gleichmäßigen grünen Teppich überzogen war. Hayden erkannte erst nach einigen Sekunden, dass es sich tatsächlich um einen Felsen handelte, aber um einen Felsen mit einem Durchmesser von etlichen Kilometern.
    Er war sprachlos vor Staunen. Vater, der mit Mutter in einem aus Weidenzweigen geflochtenen Speisekorb
saß, musste lachen. »Das ist der größte Himmelskörper, den du je gesehen hast, Hayden. Aber glaube mir, es
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