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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Autoren: János Kertész
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belagert. Zwei große Reisebusse und mehrere Kleinbusse
bringen neben den Reisenden Tonnen von Rucksäcken und Taschen, die jetzt
ausgeladen werden.
    Eine Gruppe von spanischen Jugendlichen
singt und tanzt, ein Gitarrenspieler begleitet ihre kindisch-religiösen Songs.
Sie sind alle sehr fröhlich und adrett und bilden einen inselartigen Haufen in
der Masse der durchschwitzten und verstaubten Fußpilger.
    Eine deutsche Punkerin, eine
kahlköpfige junge Frau, die ihre verschiedensten Körperteile wie ein Fakir mit
Nadeln und Ringen durchbohren lassen hat, versucht an einem Wasserhahn, ihren
Schäferhund zu waschen. Das Tier, das am Hals eine Pilgermuschel trägt, findet
diese Prozedur äußerst ungemütlich und wehrt sich mit aller Kraft dagegen.
    Ich verlasse dieses Volksfest und
besuche die naheliegende Bar. Dort will ich etwas schreiben, aber ich bin so
erschöpft, daß ich im Sitzen einschlafe. Dabei träume ich, daß Rita mich nicht
mehr liebt und mich verläßt. Dann schrecke ich aus diesem Alptraum auf und bin
in dem ersten Augenblick sehr erleichtert: Es war nur ein Traum. Es dauert
einige Sekunden, bis mir die Erkenntnis den Atem stocken läßt: Es ist die reine
Wahrheit, die ich eben geträumt habe.
    Ich erinnere mich, solche Realträume
zuletzt damals in Davos gehabt zu haben, als Rita dort im Sterben lag.
Wiederholt erschien damals die Realität in meinen Träumen und wenn ich von
diesen Träumen schweißgebadet aufwachte, war ich erleichtert, nur geträumt zu
haben. Der Schmerz, der dieser Erleichterung folgte, als mir bewußt wurde, daß
mein vermeintlicher Traum wahr ist, kann nicht einmal andeutungsweise
beschrieben werden. Der damalige Schrecken hat mich bis heute nicht losgelassen
und noch in der letzten Zeit verursachte er mir manche schlaflosen Nächte.
    Ich hatte gehofft, das Trauma, das ich
seit damals mit mir schleppe, auf dieser Reise verarbeiten und loswerden zu
können. Jetzt habe ich dieselben traumatischen Erlebnisse in einer
abgewandelten Form.
    Oder ist alles, was jetzt mit uns
geschieht, ein Teil dieser schmerzvollen Verarbeitung? Ist es denkbar, daß ich
Rita verlieren muß, um dieses drückende Trauma über ihr Sterben loswerden zu
können? Ist es denkbar, daß sie von ihrem Todestrauma, das sie trotz ihrer
Rettung noch immer mit sich trägt, nur frei werden kann, wenn sie sich von
allem, was sie auf dieser Zeit erinnert, verabschiedet?
    Gott, hilf mir eine Antwort zu finden!
     
     

Montag, am 21. Juli
Von Arna nach Monte del Gozo
    Hinter Labacolla überquerenwir den gleichnamigen Bach, der in früheren Zeiten mehr
Wasser geführt haben mag als heute. Aymeric Picaud berichtet, daß hier die
französischen Jakobspilger „ nicht
nur ihre Geschlechtsteile, sondern den ganzen Körper nach Ablage ihrer Kleider
von Schmutz aus Liebe zum Apostel“ gereinigt haben.
    Im Dorf San Marcos kehren wir in eine
Bar ein. Es ist das letzte ländliche Lokal, das ich auf meinem Weg besuche,
eine dieser verschlafenen Einrichtungen, die sich durch ausgeprägte
Geschäftsuntüchtigkeit auszeichnen. Außer Getränken gibt es ein wenig Obst,
einige Konserven, Lotterielose sowie etwas Wurst und Käse zu kaufen. Die junge
Frau hinter der Theke liest ein Magazin und als wir sie fragen, ob sie uns zwei
belegte Brötchen machen könnte, steht sie auf und geht hinaus, ohne uns
anzuschauen oder den Blick von den Bildern zu nehmen. Nach etwa zehn Minuten
fragen wir uns, ob sie uns verstanden hat und ob wir noch auf sie warten
sollen. Dann kommt sie doch zurück und bringt die zwei Bocadillos, wobei sie in
der anderen Hand noch immer die Zeitschrift hält, die sie liest. Wie sie beim Lesen
die Brote schmieren konnte, ist mir ein Rätsel.
    Nur einige Meter weiter ist der „Berg
der Freude“, der Monte del Gozo. Der Name des grasbewachsenen Hügels bezieht
sich auf den alten Brauch der Pilger, kurz vor Santiago de Compostela diese
Anhöhe zu besteigen, weil von hier die erste Möglichkeit bestand, die Türme der
Kathedrale zu erblicken. Der erste der jeweiligen Pilgergruppe, der die Türme
in der Ferne entdeckt hatte, bekam von seinen Gefährten den Ehrentitel „König“.
Anschließend wurde das Ereignis durch Beten, Singen und Tanzen gefeiert.
    Auch wir erklimmen die Erhebung. Mein
ungeduldiger Blick fahndet mit Sehnsucht nach der Kathedrale, nach dem Ziel
meines langen, langen, vielleicht viel zu langen Weges. Ich kann sie aber nicht
entdecken. Die Stadt ist greifbar nah, aber eine ferne Baumgruppe
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