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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Autoren: János Kertész
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zwischen
meinem Aussichtspunkt und der Altstadt verdeckt die Sicht auf die Kirche.
Vielleicht die zwei Spitzen, die gerade noch über die Baumwipfel herausragen,
könnten die Türme sein.
    Wie auch immer: Ich bin so gut wie
angekommen! Die vier, fünf Kilometer werde ich auch noch schaffen!
    Und plötzlich merke ich wie die Freude
in mir hochsteigt! Wie ein Vulkan, in dem die Lava mit Elementargewalt in die Höhe
geschleudert wird, so steigt aus der Tiefe meiner Seele eine mich
überschwemmende Fröhlichkeit. Am liebsten würde ich laut loslachen, Tränen
lachen, weinen. Da aber keiner um mich herum es tut, versuche ich, meine
Gemütsausbrüche zu zügeln, was mir nur mit Mühe gelingt.
    Diese Hochstimmung wird allmählich von
Staunen abgelöst. Ich habe es tatsächlich geschafft! Ich, ein seit Jahren von
Knieschmerzen geplagter Schreibtischmensch, bin am Ziel meiner langen
Pilgerreise angekommen! Ich kann es noch gar nicht fassen!
    Erst jetzt bin ich fähig, meine
Umgebung näher zu betrachten. Der Hügel ist von einem Denkmal gekrönt, ein
geschmackloses Betonding, das man anläßlich des Papstbesuchs vor vier Jahren
hierher gestellt hatte. Etwa hundert Menschen, Pilger und Touristen, belagern
die Wiese, tausende von Fotos werden geschossen mit dem Titel: „Ich und der
Monte del Gozo“. Auch wir können der Versuchung nicht widerstehen, uns in
dieser Weise zu verewigen.
    Auch das gestrige religiöse Jungvolk
aus der Herberge ist da. Sie sind noch immer lustig und fröhlich, sie singen
und tanzen und beten, ohne Pause und ohne Unterlaß. Klatsch, klatsch, patsch,
patsch, Jesus ist mein Freund! Diese Dauerlustigkeit ist zu beneiden.
    Unterhalb der Hügel befindet sich eine
weitläufige Anlage, die zur Aufnahme der Pilgerscharen, die 1993 Santiago
besucht haben, erstellt wurde. Die etwa dreißig ebenerdigen Wohnpavillons
können gleichzeitig etwa tausend Pilger, oder wen auch immer, aufnehmen. Die
riesigen Parkplätze mit den zahlreichen Reisebussen deuten schon an, welche
Klientel hauptsächlich angesprochen wird. Ergänzt wird der Komplex durch Cafés
und Restaurants, Kioske und sonstige Geschäfte, in denen es hauptsächlich
Pilgerkitsch zu kaufen gibt. Kein von dem Pilgerwesen noch so entfernter Gegenstand
bleibt von dem abwegigen Geschmack der Souvenirhersteller und -käufer
verschont: Sonnenbrille, Minipilgerstab, Mütze, T-Shirts, Anstecknadel,
Badehose, Briefbeschwerer, Ölgemälde, Kaffeelöffel und Regenschirm, alles mit
dem Heiligen und der Muschel versehen.
    Ich will erst morgen früh, wenn die
Touristen noch nicht unterwegs sind, in die noch leere Stadt einlaufen. So
übernachten auch wir in diesem Pilgerdorf.
     
     

Dienstag, am 22. Juli
Von Monte del Gozo nach Santiago de Compostela
    Kurz hinter der
enormen Übernachtungsstätte fangen die Außenbezirke von Santiago de Compostela
an. Eine einfallslose Einfallsstraße bringt uns in die Altstadtnähe.
    Meine Berechnung ist richtig gewesen:
In dieser frühen Morgenstunde ist von dem gewöhnlichen Touristenrummel noch
nichts zu spüren. Die noch tief stehende Sonne bestreicht mit ihren wärmenden
Strahlen nur die oberen Stockwerke der alten Häuser, die kühlen Schluchten der
engen Gassen erwachen nur allmählich aus ihrem tiefen Schlaf. Die kleinen
Geschäfte werden geöffnet, der Obsthändler plaziert seine Ware auf dem schmalen
Bürgersteig vor der Tür. Die ersten Hausfrauen eilen zum Bäcker, andere
befinden sich mit den langen Weißbrotstangen schon auf dem Rückweg.
    Je näher wir zu der Kathedrale kommen,
um so mehr steigt die Spannung in mir. Eine unfaßbare Mischung von Gefühlen
überschwemmt mich, wie die Wellen einen am Meeresufer liegenden Stein
überspülen und wieder freigeben. Ich fühle mich leicht und glücklich, um in den
nächsten Augenblicken ergriffen, bekümmert und traurig zu sein, ohne den
konkreten Grund für diese Gefühlswallungen nennen zu können.
    Dann öffnet sich der Raum und ich stehe
auf der Plaza del Obradoiro, dem großen Vorplatz der Kathedrale von Santiago de
Compostela!
    Obwohl ich noch nie hier gewesen bin,
ist mir alles so unendlich vertraut, als ob ich heimgekommen wäre!
    Nach alter Tradition verrichten die
Pilger, wenn sie nach dem langen Weg die Kathedrale betreten, ein merkwürdiges
Ritual. Hinter der Barockfassade ist das aus dem 12. Jahrhundert stammende romanische
Portal erhalten geblieben, ein herrliches Meisterwerk mit Weltbedeutung in der
Kunst. Auf der Mittelsäule der Eingangsöffnung ist der
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