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Du oder das ganze Leben

Titel: Du oder das ganze Leben
Autoren: S Elkeles
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1
    Brittany
    Alle wissen, wie toll ich bin. Mein Leben ist toll. Meine Klamotten sind toll. Und meine Familie ist es erst recht.
    Ich reiße mir jeden Tag den Arsch auf, damit alle glauben, mein Leben wäre perfekt. Dabei ist das alles nur Fassade. Der schöne Schein, hinter dem sich die eigentliche Wahrheit verbirgt, muss um jeden Preis gewahrt werden. Denn sonst wäre die Illusion von der perfekten Brittany dahin.
    Ich stehe vor dem Badezimmerspiegel, aus den Boxen meiner Anlage dröhnt Musik. Frustriert wische ich den dritten verwackelten Lidstrich ab, den ich unter meinem Auge gezogen habe. Meine Hände zittern, verdammt noch mal. Weder die Tatsache, endlich Senior zu sein, noch die Aussicht darauf, dass mein Sommer als Strohwitwe vorbei ist und ich gleich meinen Freund wiedersehe, dürfte mich dermaßen fertigmachen. Und trotzdem – dieser Tag ist jetzt schon die totale Katastrophe. Zuerst hat mein Plätteisen Rauchzeichen von sich gegeben und kurz darauf den Dienst quittiert. Dann ist ein Knopf von meiner Lieblingsbluse abgesprungen. Und jetzt meint mein Eyeliner, er müsse den Aufstand proben. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich mich in mein kuscheliges Bett verkriechen und den ganzen Tag lang warme Schokoladenkekse essen.
    »Brit, komm endlich«, höre ich meine Mutter von unten rufen.

    Mein erster Impuls ist, sie zu ignorieren, aber das würde mir nur endlose Diskussionen, Kopfschmerzen und noch mehr Geschrei einbringen.
    »Ich bin gleich da«, rufe ich also und hoffe, dass mein Eyeliner etwas Mitleid zeigen und mir erlauben wird, eine gerade Linie zu ziehen, damit dieses Rumgefummel ein Ende hat.
    Endlich geschafft, ich pfeffere den Augenverschönerer auf die Badezimmerablage, werfe zwei, drei prüfende Blicke in den Spiegel, schalte die Anlage aus und haste durch den Flur.
    Meine Mutter steht am Fuß unserer breiten Treppe und nimmt mein Outfit von oben bis unten unter die Lupe. Ich korrigiere meine Haltung. Ich weiß, ich weiß. Ich bin achtzehn und es sollte mir wirklich egal sein, was meine Mutter denkt. Aber ihr habt eben noch nie unter dem Dach der Ellis-Familie gelebt. Meine Mom leidet an Angstzuständen. Und es ist nicht die Sorte, die man mit kleinen blauen Pillen in den Griff bekommt. Wenn meine Mom gestresst ist, lässt sie es an allen aus, die mit ihr zusammenleben müssen. Ich schätze, das ist der Grund dafür, dass mein Dad morgens zur Arbeit geht, bevor sie überhaupt aufgestanden ist. Auf diese Weise muss er sich nicht mit dem Problem auseinandersetzen. Oder mit ihr.
    »Scheußliche Hose, toller Gürtel«, sagt Mom, wobei ihr Zeigefinger auf die entsprechenden Kleidungsstücke zeigt. »Und von dem Krach, den du Musik nennst, bekomme ich Kopfschmerzen. Dem Himmel sei Dank, dass nun endlich Ruhe herrscht.«
    »Ich wünsche dir auch einen guten Morgen, Mutter«, sage ich, bevor ich die Treppe hinuntereile und ihr einen Kuss auf die Wange gebe. Je näher ich ihr komme, desto stärker wird der stechende Parfumgeruch, der von meiner Mutter ausgeht. In ihrem Tennisdress von Ralph Lauren sieht sie atemberaubend aus. Niemand hätte einen Grund, mit dem Finger auf sie zu zeigen und ihr Outfit zu kritisieren, das steht fest.

    »Ich habe dir zum ersten Schultag deinen Lieblingsmuffin besorgt«, sagt Mom. Sie zaubert eine kleine Papiertüte hinter ihrem Rücken hervor.
    »Nein, danke«, erwidere ich und sehe mich suchend nach meiner Schwester um. »Wo ist Shelley?«
    »In der Küche.«
    »Ist die neue Pflegerin schon da?«
    »Ihr Name ist Baghda, und nein. Sie kommt erst in einer Stunde.«
    »Hast du ihr gesagt, dass Shelly keine Wolle verträgt? Und dass sie die Leute an den Haaren zieht?« Meine Schwester hat Zerebralparese und ist in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. Doch auch, wenn sie nicht sprechen kann, hat sie Wege gefunden, uns mitzuteilen, dass sie das Gefühl von Wolle auf ihrer Haut nicht mag. Das An-den-Haaren-Ziehen ist neu und hat schon einige Katastrophen ausgelöst. Und Katastrophen, die in diesem Haus passieren, besitzen das gewisse Weltuntergangsflair. Sie zu vermeiden ist überlebenswichtig.
    »Ja. Und noch einmal ja. Ich habe deiner Schwester heute Morgen schon die Leviten gelesen. Wenn sie weiter so ein Spiel treibt, wird auch die neue Pflegerin nicht lange bei uns bleiben.«
    Ich gehe an Mom vorbei in die Küche, da ich keine Lust habe, mir ihre Theorien darüber anzuhören, warum Shelley handgreiflich wird. Hat sie mit dem Lamento erst mal angefangen, findet sie meist kein
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