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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Autoren: János Kertész
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oder nicht, kann
nur der Glaube beantworten. Ich finde diese Antwort gar nicht so wichtig. Für
mich bleibt die Tatsache, daß ich gebetet habe und die nicht zu erwartende
Genesung, um die ich Gott bat, eingetreten ist. Ich fühlte mich danach mit
einer Bringschuld belastet.
    Just in dieser Zeit habe ich im
Fernseher einen Bericht über die Wiederbelebung des mittelalterlichen
Pilgerweges nach Santiago de Compostela gesehen. Es hat nicht lange gedauert,
bis mein Entschluß feststand, das Grab des Jakobus als Pilger zu besuchen. Ich
wollte Gott suchen, ihn finden und ihm meine Bringschuld erstatten.
    Diese Pilgerreise ist, nicht nur, was
die Zeit und die Entfernung betrifft, die längste Reise meines Lebens gewesen.

Sonntag, am 16. Februar
Von Kassel nach
Melsungen
    Die Nacht habe ich unruhigverbracht. Die bevorstehende Reise macht mir so kurz vor
dem Start mehr Sorgen, als ich erwartet hätte. Die Planung und die
Vorbereitungen haben mir viel Freude gemacht, aber als ich heute nacht
aufgewacht bin, sind die Bedenken stärker gewesen als die Freude darüber, daß
die Zeit endlich da ist loszugehen.
    Ich bin nicht mehr der Jüngste, habe
Übergewicht, Artrose in beiden Knien, werde vom Senkfuß geplagt, mein Blutdruck
ist gefährlich hoch, und seit Jahren habe ich chronische Kopfschmerzen. Nicht
gerade die besten Voraussetzungen, um mit einer schweren Last auf dem Rücken
fast dreitausend Kilometer zu laufen. Vielleicht schaffe ich es gar nicht, so
weit zu kommen, und es wird mir ähnlich ergehen wie den Ameisen in dem Gedicht
von Ringelnatz:
     
    „In Hamburg lebten zwei Ameisen.
    Sie wollten nach Australien reisen.
    In Altona auf der Elbchaussee
    Da taten ihnen die Füße weh,
    Und so verzichteten sie weise
    Dann auf den zweiten Teil der Reise.“
     
    Meinen Rucksack habe ich schon gestern
gepackt. Es hat Tage gedauert, bis ich die Ausrüstung ausgewählt hatte, die ich
jetzt mitnehme. Bei der ersten Zusammenstellung kam eine solche Menge von
Gegenständen zusammen, daß ich sie kaum heben, geschweige denn tragen konnte.
Dabei waren es ausschließlich Dinge, von denen ich meinte, nicht ein einziges
entbehren zu können. Nach mehrmaligem Umpacken und Wiegen ist von allem etwa
die Hälfte übrig geblieben. Trotzdem wiegt der volle Rucksack, wenn ich den
Proviant mitrechne, noch immer siebzehn Kilo. In der einschlägigen Literatur
wird zwölf Kilo als Maximum empfohlen. Wie man das schafft, mit zwölf Kilo
auszukommen, ist mir nicht nachvollziehbar.
    Auch das Frühstück will mir nicht so
gut schmecken wie sonst. Die Aufregung läßt den Magen schrumpfen.
    An diesem ersten Tag begleiten mich
zwei gute Freunde, Manfred und Werner. Da sie in der Woche arbeiten müssen,
habe ich für den Start einen Sonntag gewählt.
    Das Wetter meint es gut mit uns. Blauer
Himmel, strahlende Sonne, nur am diesigen Horizont ahnen wir einige
Wolkenfelder. Es ist kalt. Vorgestern hat es wieder etwas geschneit, nicht
viel, etwa wie eine dünne Schicht Puderzucker auf einem Kuchen. Über Gras und
Laub ist dieser Schnee schon fast abgetaut, nur über dem hartgefrorenen Weg
liegt noch ein kleiner Rest. Wir laufen wie auf einem weißen Teppichstreifen.
    Hinter dem Dorf Eiterhagen führt uns
ein steiler Hohlweg aus dem Tal hinaus. Hier zeigt sich besonders deutlich, daß
unser Weg schon im Mittelalter intensiv benutzt wurde. Obwohl der Boden hier
sehr steinig ist, haben die Passanten und die Fahrzeuge in Jahrhunderten eine
tiefe Rinne herausgefahren. Neben dieser heutigen Spur sind in dem Wald mehrere
weitere Parallelspuren zu entdecken, ältere, verlassene Vorgänger des heutigen
Weges.
    Die letzten zwei Stunden sind dann doch
zäh. Ich bin jetzt müde, meine Füße fangen an zu schmerzen. Ich sehne mich nach
Dusche und Bett. Die Jugendherberge in Melsungen liegt auf einem Berghang.
Obwohl auch Manfred und Werner müde sind, laufen sie nicht gleich zum Bahnhof,
sondern begleiten mich bis zu der Herberge. Ich bin gerührt, aber vor Müdigkeit
kann ich es kaum zeigen.
    In einer Jugendherberge bin ich mein
Lebtag noch nicht gewesen. Zwar bekomme ich ein eigenes Zimmer mit WC und Waschbecken,
aber ein Handtuch habe ich nicht mitgebracht. So trockne ich mich nach dem
Duschen mit Klopapier ab. Dann will ich mich kurz hinlegen, aber die Müdigkeit
läßt mich sofort in den Schlaf hinüber gleiten.
    Mein Handy weckt mich. Hintereinander
vier Anrufer, meine Freundinnen und Freunde wollen wissen, wie der erste Tag
gewesen ist, und ob ich etwas brauche,
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