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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Autoren: János Kertész
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was sie mir schnell bringen könnten.
Einer bietet sogar an, mich wieder nach Hause zu bringen, falls ich genug vom
Laufen hätte.
    Wir sind heute immerhin 22 Kilometer
gelaufen.

Montag, am 17. Februar
Von Melsungen nach Rotenburg an der Fulda
    Der tiefe und
traumlose Schlaf entläßt mich in eine graue, sorgenvolle Stimmung. Draußen ist
es feuchtkalt, es soll heute regnen. Ich könnte mich jetzt zu Hause in meinem
Bett von der linken auf die rechte Seite drehen, in aller Ruhe friedlich weiter
schlafen und das Wetter vor der Tür Wetter bleiben lassen. Was mache ich hier
überhaupt? Was soll das alles?
    Plötzlich überfällt mich die
erschreckende Erkenntnis, daß ich diese Reise zwar technisch genau geplant, die
Route, die Ausrüstung lange durchdacht, aber die Kostenfrage fast vollständig
verdrängt habe. Ich bin gestern mit dem Geld wahrhaftig nicht verschwenderisch
umgegangen, trotzdem habe ich über 80 DM ausgegeben. Die 1000 DM, die ich
mithabe, reichen gerade mal für zwölf Tage. Mein Einkommen ist nicht besonders
üppig. Wie soll das alles funktionieren? Wieso habe ich mich mit dieser Frage
nicht früher befaßt?
    Nachdem ich mich gewaschen und rasiert
habe, sieht die Welt etwas rosiger aus. Die Schmerzen, die ich am Abend hatte,
sind weg. Ich begebe mich in den Frühstücksraum, wo ich heute der einzige Gast
bin. Der junge Herbergsvater, der weiß, daß ich nach Spanien laufen möchte, hat
alles auf den Tisch gestellt, was im Begriff „Frühstück“ Platz hat: mehrere
Sorten von Brot, Käse, Wurst, Marmelade, Säfte, Kaffee mit warmer Milch, und
als Krönung zwei lange, blaue Kerzen, eine links und eine rechts. Als ich den
reichgedeckten Tisch entdecke, ist auch der letzte Rest meiner schlechten
Stimmung verflogen.
    Der weitere Weg wird auf meiner
Landkarte als Fahrradweg ausgewiesen. Es ist ein schmaler Asphaltstreifen, der
sich als Landwirtschaftsweg auf den Fuldawiesen zwischen dem Fluß und der
Eisenbahnlinie nach Süden schlängelt. Die Wiesen wurden frisch gedüngt. Von
Morschen bis Baumbach stinkt es nach Schweinegülle, von Baumbach bis Rotenburg
nach Kuhmist.
    Da die Jugendherberge in Rotenburg an
der Fulda erst um 17 Uhr ihre Pforte öffnet, setze ich mich in ein Café auf dem
Marktplatz. Eine schöne, heimelige Stimmung läßt mich in müde Zufriedenheit
sinken. Die relativ lange Strecke hat mir keine Probleme gemacht. Darüber bin
ich richtig froh.
    Wie geht es mir sonst? Wie sind meine
ersten Eindrücke? Nun, es ist noch zu früh, sich eine Meinung zu bilden, aber
Enthusiasmus verspüre ich in keiner Weise. Ich bin müde, naßgeschwitzt, und
wenn ich Pause mache, friere ich in den feuchten Sachen wie ein Hund.
    Das Alleinsein macht mich verkrampft.
Ich mache mir Gedanken darüber, was wohl die Menschen, die mich hier laufen
sehen, über mich denken. Auch wenn kein Mensch von mir Notiz nimmt, fühle ich
mich beobachtet. Wenn ich mit Freunden am Wochenende wandere, habe ich keinen
solchen Gedanken.
    Auch meine Frau Rita fehlt mir sehr.
Sie wird mich erst in vier Wochen besuchen und vielleicht einige Tage mit mir
laufen. Wer weiß, ob ich in vier Wochen noch unterwegs bin?
     
     

Dienstag, am 18. Februar
Von Rotenburg an der Fulda nach Bad Hersfeld
    Welcher
Unterschied zu dem gestrigen Frühstück: Ein junger Kerl schaut mir hämisch zu
und gibt mir knappe Anweisungen, wo ich mein Geschirr und Besteck aus den
verschiedenen Schränken und Schubladen zusammensuchen soll, ohne mir dabei zu
helfen. Es ist halt kein Hotel, sondern eine „ordentliche“ Jugendherberge.
    Draußen gießt es aus allen
Himmelsrohren. Ich habe ein Regencape dabei, das ich jetzt anziehen möchte, und
dabei erlebe ich eine unangenehme Überraschung. Ich habe diesen Regenschutz
schon hundertmal getragen, allerdings immer über meinem kleinen Rucksack, den
ich bei Wochenendwanderungen benutze. Jetzt erst entdecke ich, daß er sich
nicht über meinen großen Rucksack ziehen läßt. Es bleibt mir nichts anderes
übrig, als ihn unter dem Rucksack anzuziehen und zu hoffen, daß der Rucksack
wasserdicht ist.
    Bald folgt ein schöner Forstweg, stets
steigend bis zur Wegkreuzung Hohe Buche, wo fünf Wege zusammenlaufen. In der
Platzmitte steht zwar ein hoher Baum, aber es ist keine Buche, sondern eine
Eiche. Die Flurnamen sind in der Regel älter als der älteste Baum im Wald.
    Beim Laufen stelle ich überrascht fest,
wie ich das Wandern und die Stille in diesem durch Nebel geheimnisvoll
verzauberten schönen Hochwald trotz
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