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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Autoren: János Kertész
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Vorbemerkung
    Jährlich einmal, jeweils im Frühjahr,
besucht meine Frau die Schweiz, um dort ihr Lungenleiden kurieren zu lassen.
Diese Klinikaufenthalte sind im Laufe der Zeit Routine geworden, ebenso der
Brauch, die Kurtage durch einen kurzen gemeinsamen Urlaub zu verlängern.
    Auch diesmal bin ich, von der Vorfreude
auf die gemeinsamen Tage erfüllt, nach Davos gefahren, um sie dort abzuholen.
Ich fand sie nicht, wie ich erwartete, erholt und gekräftigt, sondern krank und
im Fieber vor. Der Klinikaufenthalt wurde verlängert in der Hoffnung, daß ihr
Gesundheitszustand sich in einigen Tagen bessern würde.
    Der wurde aber zusehends schlechter.
Ich saß von morgens bis abends an ihrem Bett und habe ängstlich und ohnmächtig
zugesehen, wie sie von Stunde zu Stunde weniger Luft bekam. Meine zahlreichen
Interventionen, ihr doch mehr Hilfe zukommen zu lassen, wurden von den
zuständigen Ärzten und dem Pflegepersonal mit beschwichtigenden Erklärungen
beantwortet.
    Dann kamen die Osterfeiertage, in denen
alle zuständigen Entscheidungsträger sich auf Urlaub begaben. Das Notpersonal,
teilweise aus Hilfskräften bestehend, hat es nicht gewagt, von außerhalb der
Klinik rechtzeitig Hilfe zu holen. Daß ich in diesen Tagen meine geliebte Frau
nicht in ein Taxi gepackt und in ein ordentliches Krankenhaus gebracht habe,
werde ich mir in meinem ganzen Leben nicht verzeihen. Als sie an dem grauen,
regnerischen Ostersonntag aus dieser Klinik in das städtische Spital überstellt
wurde, war sie ohnmächtig und kurz vor dem Ersticken. Nach einer schnellen
Untersuchung wurde mir von dem über den Zustand meiner Frau empörten Arzt
mitgeteilt, daß ihre Lunge so hochgradig entzündet sei, daß sie kaum eine
Chance habe, die nächsten zwei Tage zu überleben.
    Ich wollte sterben, mich umbringen.
Meine Frau bedeutete mir alles, das Leben ohne sie konnte ich mir nicht vorstellen.
Ich wollte nur ihr Ableben abwarten, um dann mit ihr zu gehen.
    Nun, sie hat die nächsten zwei Tage,
auch die nächsten zwei Wochen und Monate überlebt. Allerdings lag sie im Koma,
künstlich beatmet und bar jeder Hoffnung auf ein späteres Leben, das wir als
lebenswert zu bezeichnen pflegen.
    Für mich, der in der ganzen Zeit bei
ihr blieb, war es die Zeit des Abwartens und der Ohnmacht. Am Anfang habe ich
stundenlang auf den Bildschirm des Computers gestarrt, um aus den Daten eine
Prognose, eine Hoffnung schöpfen zu können. Jede von den Ärzte gemachte
Bemerkung, ihre Stimmung und ihren Gesichtsausdruck habe ich zu deuten und zu
interpretieren versucht. Vergebens: Ich mußte schnell lernen, daß der Mensch
nicht nach Art der Physik, ja nicht mal nach den Regeln der sogenannten
Realität funktioniert. Ein stabiler Blutdruck oder ein etwas besseres
Röntgenbild bedeutete nicht, daß die Krise überstanden war, genau so wenig, wie
eine sinkende Sauerstoffaufnahme dem nahen Sterben gleichkam. In diesem auf und
ab haben solche meßbaren Größen immer geringere Bedeutung gehabt, später fast
gar keine mehr.
    Hoffnung habe ich eher aus den irrealen
Dingen meiner Umgebung schöpfen können. Da, die schwarze Katze: Kreuzt sie den
Weg von links nach rechts oder umgekehrt? Ich schämte mich, wenn ich mich dabei
ertappte, die Frage von Leben und Tod in solche unwürdige Spielchen zu
verwandeln.
    Als religiös würde ich mich nicht
bezeichnen. Ich habe zwar eine katholische Erziehung genossen, aber der Glaube
ist mir im Laufe der Jahre verloren gegangen.
    Als ich erstmals versuchte, in dem
kleinen Gotteshaus von Frauenkich zu beten, war das nicht mehr als das Spiel
mit der schwarzen Katze. Ich habe aber keine Scham dabei empfunden. Im
Gegenteil: Es hat mir einen zwar noch schwankenden, aber merkbaren Halt
gegeben, den ersten, den ich nach Wochen der Orientierungslosigkeit und
Ohnmacht fand. In den nächsten Tagen versuchte ich es immer wieder, und bald
gab es in Davos und Umgebung kein Feldkreuz und keine Kapelle, vor denen ich
nicht im Schnee kniend Gott um das Leben meiner Frau gebeten hätte.
    Und dann geschah das, was die Ärzte
kopfschüttelnd und hocherfreut als Wunder bezeichneten. Nicht nur, daß der
Gesundheitszustand meiner Frau sich gebessert hätte: Diese Besserung geschah in
einer nie dagewesenen Geschwindigkeit! Ihre Fortschritte konnte ich täglich
beobachten, und es hat zwar doch noch ein weiteres halbes Jahr gedauert, bis
sie wieder ganz auf die Beine kam, aber sie lebte, lachte und brachte weiteres
Glück in mein Leben.
    Ob es ein Wunder war
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