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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Autoren: János Kertész
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meditativen
wortlosen Gebet.
    Um all die schönen Barockwerke in Fulda
zu besichtigen, brauchte ich mehrere Tage. Ich bin aber nicht als Kulturtourist
gekommen, sondern als Jakobspilger, der sich hier nur kurz ausruhen möchte. So
verbringe ich den Nachmittag in einem Café mit Lesen und Schreiben, und gehe
früh schlafen.
     
     

Samstag, am 22. Februar
Von Fulda nach Neuhof
    Obwohl nach der Wettervorhersage heute der Frühling ausbrechen sollte, ist der Morgen
tiefgrau. Still regnet es vor sich hin. Auch meine Stimmung ist verregnet.
Diese naßkalte Witterung macht mich auf die Dauer mürbe. Ich wandere zu Hause
an jedem Wochenende bei jedem Wetter, auch bei Regen und Schnee, und es hat mir
nie etwas ausgemacht, unterwegs naß zu werden. Es ist aber etwas anderes, nach
einem verregneten Sonntagsausflug meine schmutzigen Sachen in die Waschmaschine
und mich in die Badewanne zu legen, als täglich alles mühselig in dem meistens
sehr kleinen Waschbecken zu waschen, und auf dem Heizkörper zu trockenen, damit
es am nächsten Morgen wieder in den Regen hinausgetragen werden kann...
    Ich muß weiter. Nun regnet es nicht
mehr, aber die graue Kälte läßt mich innen und außen frösteln.
    Zirkenbach, Nonnerod, dazwischen
baumlose Ackerflächen, über die der eisige Wind fegt. Ich bin erleichtert, als
nach Nonnerod der Weg in einem Bachtal windgeschützt im Wald weiterführt. Das
Wasser ist an mehreren Stellen zu Forellenteichen gestaut. Die Teiche sind mit
dickem Eis bedeckt.
    Nach Durchquerung des schönen
Laubwaldes trifft der Forstweg auf eine uralte Heerstraße, der ich bis Neuhof
folge. Das Hotel, in dem ich ein Zimmer nehme, ist ein gutes Haus. Ich wasche
meine Unterwäsche, esse schnell etwas aus dem Rucksack, und weil ich sehr müde
bin, gehe ich früh schlafen.
     
     

Sonntag, am 23. Februar
Von Neuhof nach Schlüchtern
    Offensichtlich habe ich es nötig gehabt: Ich habe elf Stunden an einem Stück
geschlafen.
    „Wohin geht es heute?“ fragt meine
Wirtin, die, nach ihrer Figur geurteilt, noch nie mehr als drei Kilometer
gelaufen ist.
    „Nach Schlüchtern“, sage ich.
    „Ach so, das ist ja ganz nah, nur 15
Kilometer!“ Tatsächlich steht an der Kreuzung vor dem Haus ein entsprechendes
Verkehrsschild. Wo früher die kürzesten, logisch angelegten Wege zwischen zwei
Ortschaften waren, ist heute in der Regel eine stark befahrene Landstraße. Die
durch die Felder und Wälder führenden Wanderwege sind meistens dreißig bis
fünfzig Prozent länger. So muß ich auch heute bis Schlüchtern anstelle von
fünfzehn etwa zwanzig Kilometer laufen. Ich will es nicht laut sagen, aber
heute ist das Wetter endlich gnädig zu mir. Zwar etwas fahl hinter
Schleierwolken, aber immerhin scheint die gütige Sonne. Am Anfang benutze ich
eine schmale asphaltierte Piste, einen der Radwege, die in den letzten zehn
Jahren überall gebaut wurden. Ab Rommerz komme ich auf die Landstraße nach
Flieden. Die Messe ist gerade aus, festlich gekleidete Menschen verlassen die
Kirche. Alle, die mir begegnen, grüßen mich freundlich.
    Ich will eine kurze besinnliche Pause
halten und gehe in die von den Messebesuchern eben verlassene, vermeintlich
leere Kirche, aber ich höre schon eine Litanei. Etwa zwei dutzend meist ältere
Frauen leiern ein Gebet ab, in dem es fast ausschließlich darum geht, daß wir
nichtsnutzige sündige Menschen der Gnade Gottes gar nicht würdig sind. Nach
einer Weile verlasse ich diese Veranstaltung. Wenn der Mensch tatsächlich so
wäre, wie in diesen Gebeten beschrieben wird, dann hätte der Schöpfer
gepfuscht. Wozu hätte Gott die Welt so herrlich gestaltet, wenn wir durch
unsere Unwürdigkeit sie gar nicht genießen dürften? Ich bin der Meinung, daß
wir Menschen bei aller Unvollkommenheit ein Teil dieser ganz gut gelungenen und
sicher auch gottgefälligen Schöpfung sind.
    Der jetzt folgende Landstrich — der
Landrücken — ist eine hügelige, hochgelegene Wald- und Wiesenlandschaft. Ein
starker kalter Südwind bläst mir immer heftiger entgegen. Obwohl ich auch heute
keine Schwierigkeiten habe zu laufen, ist meine Stimmung nicht die beste. Das
einsame Laufen finde ich anstrengend, zeitraubend, langweilig. Sicher, ich habe
jetzt die Bestätigung, daß ich es kann, sogar besser, als erwartet, aber was
soll das alles? Am ganzen Tag diese Strapaze, und wenn ich am Abend in
irgendeinem Nest ankomme, bin ich meistens so müde, daß ich es kaum schaffe,
etwas zu schreiben.
    Vor Röhrigs, nur einige Schritte
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