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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Autoren: János Kertész
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thronende heilige
Jakobus dargestellt. Unter ihm, auf dem Schaft der Säule, ist der Baum des
Josua, der Stammbaum Christi, zu sehen. Am Fuß der Säule ist eine kniende
Männergestalt dargestellt, die nach der Überlieferung den Erschaffer dieses
Werkes, Meister Mateo, darstellt. Die Pilger begrüßen den Heiligen, indem sie
fünf Finger der rechten Hand in bestimmte Vertiefungen der steinernen Ranken
des Baumes stecken und mit der Stirn die kniende Figur berühren.
    Der Platz ist noch menschenleer, die
Kirche geschlossen; sogar der Zugang zu der feierlichen Vortreppe ist durch ein
schmiedeeisernes Gitter gesperrt. Ich bedauere, das Begrüßungsritual nicht
vollziehen zu können.
    Wir umrunden den Gebäudekomplex und ich
bin sehr erfreut, als ich das Tor des südlichen Seitenschiffes, das
Platerías-Portal, offen finde.
    Ich betrete den Innenraum. Obwohl ich
weiß, daß ich mich in einer der herrlichsten Kirchen der Christenheit befinde,
hat dies im Augenblick für mich keinerlei Bedeutung. Die letzten fünfzig Meter
bis zum Altar lege ich mit dem Gefühl, das ich als Kind empfunden habe, als
meine Mutter mich mit offenen Armen zu sich rief, fast im Laufschritt zurück.
Ich schaffe es kaum noch, mich meines Rucksacks zu entledigen, bevor ich in die
Knie sinke und durch einen Weinkrampf geschüttelt werde, wie ich es noch nie
erlebt habe.
    Ich bin angekommen!!! Nicht nur in
Santiago, nein, ich bin angekommen bei Gott, bei den Menschen, bei mir selbst!
Das ist das Ankommen in Vollendung! Danke! Danke! Danke!
    Nach einer halben Stunde verlasse ich
die Kirche, ohne mich dort auch nur umgeschaut zu haben. Romanische Kunst, das
berühmte schwenkbare Rauchgefäß Botafumeiro oder die Treppe hinter dem Altar, von der aus die Statue des Heiligen berührt
und geküßt werden kann, das sind alles Dinge von dieser, von der realen Welt,
mit der ich im Augenblick nichts zu tun haben will.
    Draußen fängt es zu regnen an. Es ist
kühl geworden. Ich friere. Ein Lieferwagen würgt sich durch die enge Gasse, in
der sich das Pilgerbüro befindet. Zu verfehlen ist es nicht: Eine lange
Schlange von Pilgern wartet auf die Öffnung. Hier wird die amtliche Bestätigung
der Pilgerreise, die in Latein geschriebene Compostela, ausgehändigt. Dem Massenbetrieb entsprechend,
läuft alles nüchtern und sachlich ab. Nach einer Viertelstunde habe ich das
Blatt Papier in meiner Hand. Angesichts der Belohnung, die ich eben in der
Kirche erhalten habe, bedeutet mir diese Urkunde nur wenig.
    Ja. Jetzt sitzen wir in einem Café. Die
Reise ist zu Ende. Wenn ich in Santiago de Compostela ein Gästebuch gefunden
hätte, könnte ich jetzt eine abschließende Gebet dort eintragen. Da ich es
nicht fand, schreibe ich in mein Tagebuch:
     
    „ WO DIESER WEG ZU ENDE IST, FÄNGT DER NEUE WEG AN. GOTT HELFE MIR, ALLE
MEINE WEGE TROTZ DEN VIELEN SCHWIERIGKEITEN MIT SO VIEL FREUDE UND ERFOLG ZU
BEGEHEN, WIE ICH DIESEN BEGEHEN DURFTE!“

Nachbemerkung
    Der alten Pilgertradition folgend, habe
ich mit meinem FreundWerner auch die von Santiago de
Compostela drei Tagesmärsche entfernte Atlantikküste besucht. Hier befindet
sich der westlichste Punkt der im Mittelalter bekannten Welt, das Cap
Finisterre, zu deutsch „Kap am Ende der Welt“. Dies erwähne ich nur, um den für
den Titel dieses Pilgerberichtes gewählten Ausdruck „Ende der Welt“ zu erklären. Für mich war dieser Anhang der
Reise nicht mehr als eine vergnügliche touristische Unternehmung, die mit
meiner Pilgerreise weder spirituell noch emotional etwas zu tun hatte. Meine
Pilgerreise endete vor dem Altar in der Kathedrale von Santiago de Compostela.

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