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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
Autoren: János Kertész
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des Regens doch genieße. Das erstemal auf
dieser Reise verspüre ich eine eindeutige Freude darüber, unterwegs zu sein.
    Oben angekommen befinde ich mich mitten
in windgejagten Wolken, die von Südwesten her aus dem Tal hochziehen. Sie
werden hier am Bergrücken von dem Geäst der heulenden und sich biegenden Buchen
in Strähnen gekämmt. Mir fällt dabei ein, daß ein ehemaliger Landsmann von mir,
nämlich Ödön von Horváth, in der Fremde von einem stürzenden Baum erschlagen
wurde. Das war allerdings nicht hier, sondern in Paris, obwohl dieser
Unterschied für den Erschlagenen von geringer Bedeutung gewesen sein dürfte.
    Am Ortseingang von Bad Hersfeld ist
endlich eine Bratwurstbude, an der ich einen heißen Kaffee trinke. Wie ich so
begossen vor dem Verkäufer stehe, schaut er mich an, als er hätte eine
Erscheinung. „Schauen Sie mich nicht so an!“ sage ich ihm, „ich komme mir auch
komisch vor.“
    In der Jugendherberge bin ich wieder
der einzige Gast. Das Vierbettzimmer hat zwei große Heizkörper, an denen ich
jetzt alles, was ich mithabe, zu trocknen versuche. Das Zimmer sieht danach aus
wie eine Rumpelkammer, überall hängen Kleidungsstücke, Schuhe, Bücher,
Fotoapparat, Kosmetiksachen, alles triefend naß. Mein Geld, das ich in einem
ledernen Geldgurt mit mir trage, ist auch völlig durchgeweicht. Die schönen
blauen Hundertmarkscheine sind vom Leder alle häßlich braun geworden. Nur
einige Kilometer weit von hier habe ich eine liebe Frau, ein wunderschönes
Zuhause, trocken und warm, Badewanne, seidene Bettwäsche, Weinkeller...
     
     

Mittwoch, am 19. Februar
V on Bad Hersfeld nach Michelsrombach
    Nachts hat es
geschneit. Es ist bitterkalt.
    Nicht weit von der Herberge ist ein
Postamt, eine Rarität heutzutage. Wie ich höre, soll auch dieses bald
wegrationalisiert werden. Vor der Post spricht mich eine alte Dame an: „Wollen
Sie vielleicht nach Spanien?“ Das gibt es doch nicht! Wieso weiß die gute Frau,
daß ich nach Spanien will? Aber als ich sie danach frage, merke ich bald, daß
sie verwirrt ist. Es folgt eine unendliche Geschichte über ihre geplante
Spanienreise mit ihrem Sohn, die durch eine Krankheit ins Wasser gefallen ist.
Ihre Frage war also nur ein Zufall, keine Hexerei.
    Bevor ich Bad Hersfeld verlasse, kaufe
ich mir einige Müllbeutel, um meine Sachen das nächste Mal besser gegen Regen
schützen zu können. Die ersten zwei Stunden laufe ich im Tal des Flusses Haune,
einem Nebenfluß der Fulda, der infolge der Regenfälle der vergangenen Tage sehr
viel Wasser führt. An manchen Stellen sind die Auwiesen und sogar die Wege, auf
denen ich laufen möchte, überflutet. Bei Rhina verlasse ich das Tal und steige
zum Bergrücken Wildacker hoch. Hier liegt noch etwa 10 Zentimeter Schnee ohne
Fußspuren, unberührt. Es ist kalt. Ich schwitze und friere je nach dem, ob der
Weg steigt oder abwärts führt. Da es nicht möglich ist, mich in jeder halben
Stunde umzuziehen, laufe ich in den nassen Sachen weiter.
    Etwa zwei Kilometer südlich vom
Wildacker unterquere ich die Autobahn Kassel-Würzburg bei der Talbrücke
Großenmoor. Dieses Bauwerk wird von meinen Freunden als „Jánosbrücke“
bezeichnet, weil ich vor etwa dreißig Jahren als Angestellter in einem
Ingenieurbüro für diese Brücke die statische Berechnung angefertigt habe.
Seitdem bin ich über diese Brücke unzählige Male gefahren, aber hier unter der
Brücke bin ich letztmals gewesen, als hier noch gebaut wurde. Nun immerhin, sie
steht noch, was man nicht von allem sagen kann, was in den sechziger Jahren
gebaut wurde.
    An einen Pfeiler hat jemand einen
kleinen Handzettel mit Nazipropaganda geklebt. Ein Glück, daß ich mit
Sicherheit der einzige bin, der seit Tagen und Wochen hier vorbeigekommen ist.
Trotzdem schaue ich etwas ängstlich um mich. In einer so verlassenen Gegend
möchte ich bestimmten Menschen nicht gern begegnen.
    Es wird noch kälter. Aus Südwesten
bläst ein eisiger Wind; die tagsüber aufgetauten Pfützen bekommen wieder eine
dünne Eishaut. Ich bin heute mehr als genug gelaufen, die letzten vier
Kilometer lassen sich nur mühsam bewältigen. Als ich dann das Gasthaus in
Michelsrombach erreiche, könnte ich vor Erleichterung dem Wirt die Stirn
küssen.

Donnerstag, am 20. Februar
Von Michelsrombach nach Fulda
    Nachts hat es so gestürmt,
daß mir von der Vorstellung, bei einem solchen Wetter irgendwo draußen sein zu
müssen, Angst und Bange wurde. Der Wind heulte und rüttelte an den Rolläden,
ich
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