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Tod Eines Kritikers

Tod Eines Kritikers

Titel: Tod Eines Kritikers
Autoren: Martin Walser
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Martin Walser

    Tod eines Kritikers Roman

    Erste Auflage 2002 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002
    Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
    Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Satz:
Druck:
Printed in Germany

    1 2 3 4 5 6 – 07 06 05 04 03 02
    FÜR DIE, DIE MEINE KOLLEGEN SIND

    Q U O D E S T
    S U P E R I U S
    E S T S I C U T
    I N F E R I U S

    I. VERSTRICKUNG

    Da man von mir, was zu schreiben ich mich jetzt veranlaßt fühle, nicht erwartet, muß ich wohl mitteilen, warum ich mich einmische in ein Geschehen, das auch ohne meine Einmischung schon öffentlich genug geworden zu sein scheint. Mystik, Kabbala, Alchemie, Rosenkreuzertum –, das ist, wie Interessierte wissen, mein Themengelände. Tatsächlich unterbreche ich, um mich in ein täglich mit neuen Wendungen aufwartendes Geschehen einzumischen, die Arbeit an meinem Buch Von Seuse zu Nietzsche. Es sind eher die Vorbereitungen zu diesem Buch, die ich unterbreche, als die Arbeit an ihm. Inhalt: In die deutsche Sprache kommt der persönliche Ton nicht erst durch Goethe, von dem Nietzsche gierig profitierte, sondern schon durch Seuse, Eckhart und Böhme. Weil das bürgerlich Geschriebene unsere Erlebnis- und Fassungskraft besetzt hat, haben wir, das Publikum, nicht wahrnehmen können, daß die Mystiker ihre Ichwichtigkeit schon so deftig erlebt haben wie Goethe und wie nach ihm Nietzsche. Nur waren sie glücklich und unglücklich nicht mit Mädchen, Männern und Frauen, sondern mit Gott … Ich muß das erwähnen, weil durch mein sonstiges Schreiben gefärbt sein kann, was ich mitteile über meinen Freund Hans Lach. Beide, Hans Lach und ich, sind Schreibende.
    Ich war in Amsterdam, als es passierte. Bei Joost Ritman war ich, eingeladen, seine Sammlung anzuschauen. Mir ist kein Privater bekannt, der so viele Specimena der Mystik, Kabbala, Alchemie und des Rosenkreuzertums gesammelt hat wie Joost Ritman. Ich wohnte im Ambassade , wo ich in Amsterdam immer wohne, ich las beim Frühstück den NRC , den ich dort immer lese, und erfuhr, daß Hans Lach verhaftet worden ist. Mordverdacht. Obwohl es bei mir, sobald ich im Ausland bin, zu den Erholungsqualitäten gehört, nur die jeweils ausländischen Zeitungen zu lesen, besorgte ich mir sofort die Frankfurter Allgemeine. Da las ich nun, Hans Lachs neuestes Buch Mädchen ohne Zehennägel sei von André Ehrl-König in seiner berühmten und beliebten Fernseh-Show SPRECHSTUNDE unsanft behandelt worden. Der Autor habe den Kritiker, als der, wie es üblich sei, nach seiner Fernseh-Show in der Bogenhausener Villa des Ehrl-König-Verlegers Ludwig Pilgrim erschien, grob angepöbelt. Noch sei ungeklärt, wie es Hans Lach überhaupt gelungen sei, sich Zutritt zu der Party zu verschaffen, die Ehrl-Königs Verleger nach jeder SPRECHSTUNDE in seiner Villa veranstalte. Auf der Gästeliste sei Hans Lach nicht vorgesehen gewesen, weil es unüblich sei, Autoren, die unmittelbar davor in EhrlKönigs SPRECHSTUNDE „dran” waren, nachher zur Party einzuladen. Hans Lach sei zwar selber Autor des PILGRIM Verlags, aber an diesem Abend hätte er nach den Regeln des Hauses nicht dabei sein dürfen. Hans Lach habe offenbar sofort gegen André Ehrl-König tätlich werden wollen. Als ihn zwei Butler hinausbeförderten, habe er ausgerufen: Die Zeit des Hinnehmens ist vorbei. Herr Ehrl-König möge sich vorsehen. Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen. Diese Ausdrucksweise habe unter den Gästen, die samt und sonders mit Literatur und Medien und Politik zu tun hätten, mehr als Befremden, eigentlich schon Bestürzung und Abscheu ausgelöst, schließlich sei allgemein bekannt, daß André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust. Auf dem Kühler von Ehrl-Königs Jaguar, der am nächsten Morgen immer noch vor der Villa des Verlegers stand, sei der berühmte gelbe Cashmere-Pullover, den der Kritiker in seiner Fernsehshow immer um seine Schultern geschlungen trage, gefunden worden. Von André Ehrl-König fehle jede Spur. Es sei in dieser Nacht fast ein halber Meter Neuschnee gefallen. München im Schnee-Chaos. Hans Lach sei schon am Tag danach unter Verdacht
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