Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
schweigenden Minderheit angehörte, von der eine Stellungnahme verlangt wurde. Offensichtlich handelte es sich um diejenigen, die sich nicht in der
    »richtigen« Weise geäußert, also nicht für eine der beiden Parteien ausgesprochen hatten. Was man daran sehen konnte, 8
    daß jeder, der sich entgegen den Erwartungen eines anderen äußerte, als verräterischer Intellektueller gebrandmarkt wurde –
    abwechselnd als prokapitalistischer Bellizist oder als proirakischer Pazifist.
    Die massenmedial ausgetragene Konfrontation innerhalb der tönenden Mehrheit führte dazu, daß jeder sich die Anklagen der anderen selber zuzog. Die Verfechter der Notwendigkeit und Unausweichlichkeit des Konflikts erschienen als Interventioni-sten alten Schlages; die Pazifisten, die großenteils unfähig waren, sich von den Parolen und Ritualen der vergangenen Jahrzehnte zu lösen, zogen sich auf Schritt und Tritt die Anklage zu, die Kapitulation der einen zu wollen, um die Kriegstreiberei der anderen zu belohnen. Als exorzistisches Ritual mußte, wer den Konflikt bejahte, immer zuerst betonen, wie grausam der Krieg ist, und wer ihn ablehnte, wie brutal Saddam ist.
    In jedem dieser Fälle haben wir gewiß einer Debatte zwischen professionellen Intellektuellen beigewohnt, nicht aber einer Ausübung der intellektuellen Funktion. Die Intellektuellen als Kategorie sind bekanntlich etwas sehr Diffuses, das sich nur schwer definieren läßt. Anders steht es dagegen mit der »intellektuellen Funktion«. Sie besteht in der kritischen Sichtung und Bestimmung dessen, was als hinreichende Annäherung an den eigenen Begriff der Wahrheit angesehen werden kann – und sie kann von jedem Beliebigen ausgeübt werden, auch von einem Unterprivilegierten oder Ausgestoßenen, der über seine Lage nachdenkt und sie auf irgendeine Weise zum Ausdruck bringt.
    Während sie von einem hochprivilegierten Schriftsteller verraten werden kann, wenn er auf die Ereignisse nur mit Leidenschaft reagiert, ohne sich der Mühe des nüchtern abwä-
    genden Nachdenkens zu unterziehen.
    Deswegen, sagte Vittorini, darf der Intellektuelle nicht zur Revolution blasen. Nicht um sich vor der Verantwortung einer Wahl zu drücken (die er als Individuum treffen kann), sondern weil der Moment des Handelns verlangt, daß die Nuancen und 9
    Zwiespältigkeiten beseitigt werden (dies ist die unersetzliche Funktion des decision makers in jeder Institution), während die intellektuelle Funktion gerade darin besteht, die Zwiespältigkeiten auszugraben und ans Licht zu bringen. Erste Pflicht des Intellektuellen ist immer, die eigenen Weggefährten zu kritisie-ren (denken heißt, die Rolle der Sprechenden Grille bei Pinocchio zu spielen). Es kann vorkommen, daß der Intellektuelle das Schweigen wählt, weil er fürchtet, sonst diejenigen zu verraten, mit denen er sich identifiziert in der Überzeugung, daß sie jenseits ihrer nebensächlichen Fehler schließlich doch das Beste für alle verfolgen. Eine tragische Wahl, von der die Geschichte voll ist und für die manche in den Tod gegangen sind, indem sie sich in einen Kampf stürzten, an den sie nicht glaubten, da sie meinten, daß man die Loyalität nicht gegen die Wahrheit eintauschen könne. Aber Loyalität ist eine moralische Kategorie und Wahrheit eine theoretische.
    Nicht, daß die intellektuelle Funktion von der moralischen getrennt wäre. Der Beschluß, sie auszuüben, ist eine moralische Entscheidung, so wie der Beschluß des Chirurgen, ins lebende Fleisch zu schneiden, um ein Leben zu retten, eine moralische Entscheidung ist. Aber wenn er dann schneidet, darf der Chirurg kein Mitleid empfinden, ebensowenig wie wenn er beschließt, den Schnitt wieder zuzunähen, weil eine Fortsetzung der Operation die Mühe nicht lohnt. Die intellektuelle Funktion kann auch zu emotional unerträglichen Resultaten führen, denn manche Probleme müssen dadurch gelöst werden, daß man ihre Unlösbarkeit beweist. Es ist eine moralische Entscheidung, die eigene Schlußfolgerung zum Ausdruck zu bringen – oder sie zu verschweigen (womöglich in der Hoffnung, daß sie falsch ist).
    Dies ist das Drama derer, die sich, sei es auch nur für einen Moment, die Aufgabe eines »Funktionärs der Menschheit«
    aufladen.
    Viel bespöttelt wurde, sogar von katholischer Seite, die Haltung des Papstes, der gesagt hat, daß niemals Krieg geführt 10
    werden dürfe, der gebetet und Ersatzlösungen angeboten hat, die im Vergleich zur Komplexität des Geschehens dürftig
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher