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Blut Von Deinem Blute

Titel: Blut Von Deinem Blute
Autoren: Silvia Roth
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    Prolog
     
    Ich war neunzehn, als mein Vater mit eingeschlagenem Schädel auf dem Küchenboden gefunden wurde. Die Frau, die mit ihm starb, hatte ich nie Mutter genannt. Ich bin nicht sicher, ob sie diese Anrede von mir erwartet hatte, als sie ein paar Jahre zuvor in mein Leben eingedrungen war. Möglicherweise hatte sie das tatsächlich, nein, bestimmt sogar. Aber das kümmerte mich nicht weiter. Sie war nicht meine Mutter, und deshalb hatte ich sie auch nie so genannt.
    Trotzdem sagte Ellie »Deine Eltern sind tot«, als sie Tante Cora und mich am Frühstückstisch überraschte.
    Sie stand auf einmal neben meinem Stuhl, also wird Tante Cora sie wohl hereingelassen haben, irgendwann zu einem früheren Zeitpunkt, auf ein Klingeln hin, das sich mir nicht eingeprägt hat, und ich dachte zuerst, dass ich mich verhört haben muss, weil sie etwas derart Ungeheuerliches einfach so dahersagte.
    Deine Eltern sind tot ...
    Ich war nicht traurig oder gar entsetzt in diesem Augenblick, eher überrascht, dass ein vitaler und kraftvoller Mann wie mein Vater so plötzlich tot sein sollte. Aber an der Art, wie Ellie mich ansah, merkte ich, dass es sich tatsächlich so verhielt: Mein Vater war tot, er und die Frau, die ich nie Mutter genannt habe.
    Erst später an diesem Morgen erfuhr ich von den näheren Umständen ihres Sterbens, von dem Beil, mit dem der Mörder auf ihre Köpfe eingeschlagen hatte, und von dem Blut, das aus ihren klaffenden Wunden gegen unsere Küchenschränke gespritzt war. Gesehen habe ich nichts von alldem, denn ich habe mein Elternhaus danach nie wieder betreten.
    Deine Eltern sind tot ...
    Ellie, unser Zimmermädchen, stand noch immer neben meinem Stuhl und wartete auf eine Reaktion von mir. Aber ich konnte nicht reagieren. Mir wollte einfach keine Reaktion einfallen, die auch nur im Entferntesten zu dem Satz gepasst hätte, den Ellie da eben gesagt hatte. Also saß ich einfach nur da und starrte auf die Tischkante, von der ein winziges Stück Holz abgesplittert war. Ich hatte mich mit meinem Vater gestritten, und nun war er also tot. Und das Einzige, woran ich denken konnte, war, dass es mir nicht leidtat.
    Ich habe das nie einem Menschen anvertraut, aber es war so: Es tat mir nicht leid, dass mein Vater nicht mehr lebte. Dabei weiß ich, es hätte mir eigentlich leidtun müssen. Irgendetwas muss man als Tochter doch schließlich empfinden, irgendeine Traurigkeit oder doch zumindest etwas, das mit Mitleid oder Bedauern zu tut hat. Aber ich empfand gar nichts. Nur eine dumpfe, allumfassende Leere.
    Mein Vater hat mir zeit seines Lebens nur wenig Aufmerksamkeit und noch weniger Zeit für Gespräche gewidmet, aber damals, kurz vor seinem Tod, fing er plötzlich an, mit mir zu reden. Da war meine Entscheidung, die Insel zu verlassen, längst gefallen. Er hätte mit mir reden sollen, als ich zu einer Geburtstagsparty eingeladen hatte und niemand gekommen war. Da war ich neun gewesen. Er hätte mit mir reden sollen, als ich damit begann, meine Mutter zu suchen, wenn sie wieder einmal für ein paar Stunden verschwunden war. Oder als die Leute anfingen, mich auf meine Schwester anzusprechen, die merkwürdige Dinge tat und laut mit sich selbst diskutierend durch die Gegend radelte. Spätestens da. Aber mein Vater interessierte sich für gar nichts, und als er endlich anfing, mit mir zu reden, war es längst zu spät.
    Und so konnte ich an diesem Morgen nichts anderes tun, als auf Tante Coras angestoßene Tischkante zu starren, voller Verwunderung darüber, dass mein Vater so plötzlich tot sein sollte.
    Heute wünschte ich, ich hätte mich damals anders verhalten. Wacher. Aufmerksamer. Aber meine Reaktion auf das, was in der Küche meines Elternhauses geschehen war, bestand in einer sorgsam in alle Richtungen abgedichteten Gleichgültigkeit und dem dringenden Wunsch, die Insel auf der Stelle zu verlassen.
    Das alles ist jetzt fünfzehn Jahre her.
    Fünfzehn Jahre, in denen ich versucht habe, alles, was damals geschehen ist, zu vergessen. Insgeheim habe ich wohl immer gehofft, dass meine Erinnerungen mit der Zeit blasser werden und irgendwann vielleicht sogar ganz verschwinden würden. Aber es gibt kein Vergessen. Nicht bei so etwas.
    Überhaupt ist es seltsam, was man sich merkt, was sich einbrennt in ein Gedächtnis, und was verloren geht. Manchmal habe ich den Eindruck, es gehen vor allem die wichtigen Dinge verloren.
    Ich weiß zum Beispiel noch ganz genau, was ich zum Frühstück gegessen habe an jenem
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