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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften
Autoren: Umberto Eco
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definierte jede Simulation eines Nervengewebes von hundert Neuronen ihre eigene Anzahl
    möglicher Gleichgewichtszustände (bei einer Gesamtzahl absoluter Möglichkeiten von tausend Milliarden Milliarden Milliarden oder 1030).«
    Wenn Krieg ein neuverknüpfendes System ist, dann ist er kein Phänomen mehr, in dem Kalkül und Absicht der Gegner noch etwas zählen. Zur Multiplikation der im Spiel befindlichen Mächte verteilt er sich nach unvorhersehbaren Gewichtsanord-

    * Ideas and Information: Managing in a High-Tech World, New York, W. W.
    Norton, 1989, hier zitiert nach der italienischen Ausgabe Come vivere in un mondo High-Tech, Mailand, Bompiani, 1989, S. 107 f.
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    nungen. Daher ist es auch möglich, daß er endet und daß die dann eingetretene Ordnung für einen der Kontrahenten vorteilhaft ist, aber im Prinzip ist er, insofern er jedes
    Entscheidungskalkül herausfordert, für beide Seiten verloren.
    Um es in unserer Metapher auszudrücken: Die frenetische Bemühung der Operateure um die Kontrolle des Netzes, das fortwährend gegensätzliche Impulse erhält, läßt es schließlich zerreißen. Das wahrscheinliche Ende eines Krieges ist heute der Betriebsstillstand, der Tilt. Der alte Krieg war wie eine Schachpartie, bei der nicht nur jeder Spieler darauf abzielen konnte, möglichst viele Figuren des Gegners zu schlagen oder zu
    »fressen«, wie wir Italiener sagen, sondern vor allem (durch Spekulation auf die Art, wie der Gegner die Regeln befolgte) ihn Schachmatt zu setzen. Der heutige Krieg ist dagegen wie eine Schachpartie, in der beide Spieler (die am selben Netz operie-ren) Figuren derselben Farbe bewegen und »fressen« (das Spiel verläuft nicht mehr Schwarz gegen Weiß, sondern monochrom).
    Er ist ein Spiel, das sich selber auffrißt.
    Im übrigen würde die Behauptung, ein Konflikt habe sich in einem bestimmten Moment als vorteilhaft für einen der Kontrahenten erwiesen, ja implizieren, daß man den Vorteil »in einem bestimmten Moment« mit dem Vorteil am Ende gleichsetzt. Ein Ende könnte es jedoch nur geben, wenn der Krieg noch, wie Clausewitz wollte, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln wäre (so daß der Krieg enden würde, wenn ein Gleichgewichtszustand erreicht wäre, der die Rückkehr zur Politik erlaubte).
    In unserem Jahrhundert ist es jedoch die Politik der Nach-kriegszeit, die immer und überall die Fortsetzung (mit allen Mitteln) der vom Krieg gesetzten Prämissen bleiben wird. Wie immer der Krieg auch ausgehen mag, er wird, nachdem er eine allgemeine Neuordnung der Gewichte herbeigeführt hat, die dem Willen der Kontrahenten nicht völlig entsprechen kann, sich für die kommenden Jahrzehnte in einer politisch, ökono-18
    misch und psychologisch dramatischen Instabilität fortsetzen, die nichts anderes hervorbringen kann als eine »kriegsgesteuerte Politik«.
    Andererseits, ist es je wirklich anders gewesen? Ist es verboten zu denken, daß Clausewitz unrecht hatte? Die Geschichtsschrei-bung interpretiert Waterloo als einen Zusammenstoß zweier Intelligenzen (weil es ein Ergebnis gezeitigt hat), aber Stendhal hat es in Begriffen der Zufälligkeit zu interpretieren gewußt. Die Annahme, daß die klassischen Kriege zu vernünftigen Ergebnissen führten – zu einem schließlich eingetretenen Gleichgewicht
    –, entspringt einem hegelschen Vorurteil, demzufolge die Geschichte eine Richtung hat und das Ergebnis einer Vermitt-lung sowohl die These wie die Antithese bestätigt. Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis (auch keinen logischen) dafür, daß die Ordnung des Mittelmeerraums nach den Puni-schen Kriegen oder die Ordnung Europas nach den
    Napoleonischen Kriegen als ein Gleichgewicht definiert werden müßte. Sie könnte auch als ein Ungleichgewichtszustand definiert werden, der nicht eingetreten wäre, wenn es den Krieg nicht gegeben hätte. Die Tatsache, daß die Menschheit über Zehntausende von Jahren den Krieg als Mittel zur Auflösung von Ungleichgewichtszuständen praktiziert hat, ist nicht beweiskräftiger als die Tatsache, daß die Menschheit in derselben Zeitspanne beschlossen hat, psychische Ungleichgewichte durch den Rekurs auf Alkohol oder ähnliche zerstörerische Substanzen aufzulösen.
    Hier kommt das Tabu-Argument ins Spiel. Schon Moravia
    hatte den Gedanken nahegelegt, daß wir – so wie die Menschheit erst nach Jahrhunderten beschlossen hatte, das Inzesttabu zu entwickeln, weil sie erkannt hatte, daß strikte Endogamie zu negativen Ergebnissen führte –
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