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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften
Autoren: Umberto Eco
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Rolle in ihr spielten.
    Aber ich erinnere mich auch an Partisanen, die Halstücher in anderen Farben trugen.
    Am Radio klebend, horchte ich nachts – bei geschlossenen Fenstern, während die allgemeine Verdunkelung den kleinen Raum um das Gerät zum einzigen Lichtkreis machte – auf die Botschaften, die Radio London an die Partisanen sandte. Sie waren dunkel und poetisch zugleich ( »Die Sonne geht abermals auf«, »Die Rosen werden blühen« ), und die meisten waren Botschaften »für die Franchi«. Jemand flüsterte mir zu, daß Franchi der Anführer einer der schlagkräftigsten Untergrundorganisationen in Norditalien war, ein Mann von legendärer Tapferkeit. Franchi wurde mein Held. Franchi (sein richtiger Name war Edgardo Sogno) war ein Monarchist und so glühend antikommunistisch, daß er sich nach dem Krieg rechtsextremen Gruppen anschloß und angeklagt wurde, bei der Planung eines reaktionären Staatsstreichs mitgemacht zu haben. Aber wen kümmert’s? Sogno bleibt der Traumheld meiner Kindheit. Die 24
    Befreiung war ein Gemeinschaftswerk von Leuten aus verschiedenen Lagern.
    Heute gibt es in Italien Leute, die sagen, der Befreiungskrieg sei eine tragische Zeit der Spaltung gewesen und was wir jetzt brauchten, sei eine nationale Versöhnung. Die Erinnerung an jene schrecklichen Jahre müsse verdrängt werden. Aber Verdrängung erzeugt Neurosen. Wenn Versöhnung heißt, Mitgefühl und Respekt für all jene zu haben, die ihren Krieg in gutem Glauben führten, heißt Vergeben jedoch nicht Vergessen. Ich kann sogar zugestehen, daß Eichmann aufrichtig an seine Mission geglaubt hat, aber ich kann nicht sagen: »Okay, komm wieder und mach’s noch mal.« Wir sind hier versammelt, um an das zu erinnern, was geschehen ist, und feierlich zu erklären, daß »sie« es nie wieder tun dürfen.
    Aber wer sind »sie«?
    Denken wir hier an die totalitären Regime, die Europa vor dem Zweiten Weltkrieg beherrschten, so können wir in aller Ruhe sagen, daß sie unter den veränderten historischen Bedingungen schwerlich in derselben Form wiederkehren werden. Gründete sich Mussolinis Faschismus auf die Idee eines charismatischen Führers, auf den Korporativismus, auf die Utopie der »schick-salhaften Bestimmung Roms«, auf einen imperialistischen Willen zur Eroberung neuer Gebiete, auf einen rabiaten Nationalismus, auf das Ideal einer ganzen Nation im Schwarzhemd, auf die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie und auf den Antisemitismus, so habe ich keine Schwierigkeiten zuzugeben, daß heute die italienische Alleanza Nazionale, die aus der faschistischen Nachkriegspartei MSI hervorgegangen und gewiß eine Partei der Rechten ist, nur noch wenig mit dem alten Faschismus zu tun hat. Aus den gleichen Gründen denke ich nicht – auch wenn ich sehr beunruhigt bin über die verschiedenen neonazistischen Bewegungen, die sich da und dort in Europa einschließlich Rußlands regen –, daß der Nationalsozialismus im Begriff ist, in seiner ursprünglichen Form als eine das 25
    ganze Volk mitreißende Bewegung wiederaufzuerstehen.
    Dennoch, auch wenn politische Regime gestürzt, Ideologien kritisiert und demontiert werden können – hinter jedem Regime und seiner Ideologie steht eine Art des Denkens und Fühlens, eine Reihe von kulturellen Gewohnheiten, eine Wolke von dunklen Instinkten und unauslotbaren Trieben. Gibt es also noch ein weiteres Gespenst, das in Europa umgeht (um nicht von anderen Teilen der Welt zu sprechen)?
    Ionesco sagte einmal: »Nur die Wörter zählen, der Rest ist bloßes Geschwätz.« Sprachgewohnheiten sind oft wichtige Symptome für unausgedrückte Gefühle.
    Es lohnt sich daher zu fragen, warum nicht nur der bewaffnete Widerstand, sondern der ganze Zweite Weltkrieg überall in der Welt als ein Kampf gegen den Faschismus definiert worden ist.
    Wer Hemingways Wem die Stunde schlägt nachliest, wird feststellen, daß Robert Jordan seine Feinde stets als Faschisten bezeichnet, auch wenn er an die spanischen Falangisten denkt.
    Und Franklin D. Roosevelt erklärte am 23. September 1944:
    »Der Sieg des amerikanischen Volkes und seiner Verbündeten wird ein Sieg über den Faschismus und das von ihm repräsen-tierte Erbe des Despotismus sein.«
    Während McCarthys Kommunistenhatz wurden diejenigen
    Amerikaner, die im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatten, als » premature anti-fascists «(verfrühte Antifaschisten) bezeichnet – womit gesagt werden sollte, daß zwar der Kampf gegen Hitler in den vierziger
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