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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften
Autoren: Umberto Eco
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an den Punkt gelangt sein könnten, an dem die Menschheit das instinktive Bedürfnis verspürt, den Krieg mit einem Tabu zu belegen. Darauf ist nicht ohne Realismus erwidert worden, daß ein Tabu nicht aufgrund 19
    einer moralischen oder intellektuellen Entscheidung »proklamiert« wird, sondern sich im Verlauf der Jahrtausende in den verborgenen Falten des kollektiven Gewissens bildet (aus den gleichen Gründen, aus denen ein Nervengewebe schließlich von selbst in eine gewisse Gleichgewichtslage findet). Gewiß wird ein Tabu nicht proklamiert: es proklamiert sich selbst. Aber man kann die Zeiten des Wachstums beschleunigen. Um sich
    bewußtzumachen, daß durch sexuelle Vereinigung mit der Mutter oder der Schwester der Austausch zwischen den Gruppen blockiert wurde, hat die Menschheit Zehntausende von Jahren gebraucht, so wie es vermutlich auch recht lange gedauert hat, bis die Menschheit entdeckte, daß zwischen
    Geschlechtsakt und Schwangerschaft ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis besteht. Um jedoch zu bemerken, daß bei einem Krieg die Luftverkehrsgesellschaften ihren Betrieb einstellen, haben zwei Wochen genügt. Es ist also durchaus vereinbar mit der intellektuellen Pflicht und dem Gemeinsinn, die Notwendigkeit eines Tabus zu verkünden, auch wenn gewiß niemand die Autorität hat, es zu proklamieren und die Zeit seiner Reifung festzusetzen.
    Es ist heute eine intellektuelle Pflicht, die Unmöglichkeit des Krieges zu proklamieren. Auch wenn es keine alternative Lösung gibt. Allenfalls wäre daran zu erinnern, daß unser Jahrhundert eine exzellente Alternative zum Krieg gekannt hat, nämlich den »kalten« Krieg. Sooft er auch Gelegenheit zu Greueln, Ungerechtigkeit, Intoleranz, lokalen Konflikten und diffusem Terror geboten hat – am Ende wird die Geschichte zugeben müssen, daß der kalte Krieg eine sehr humane und relativ sanfte Lösung war, bei der es schließlich sogar Sieger und Besiegte gab. Aber es steht der intellektuellen Funktion nicht zu kalte Kriege zu erklären.
    Was einigen als das Schweigen der Intellektuellen über den Krieg erschienen ist, war vielleicht nur die Furcht, bei laufen-dem Geschehen in den Medien von ihm zu sprechen, schon weil 20
    die Medien selber ein Teil des Krieges und seiner Instrumente sind und es daher gefährlich ist, sie als neutrales Gebiet zu betrachten. Außerdem gelten für die Medien andere Zeiten als die der Reflexion. Die Ausübung der intellektuellen Funktion trifft ihre Aussagen immer entweder im voraus (über das, was vielleicht geschehen wird) oder hinterher (über das, was geschehen ist); sie äußert sich selten über das, was gerade geschieht, aus Gründen des Rhythmus, weil die Ereignisse immer schneller und bedrängender sind als das Nachdenken über die Ereignisse. Deswegen lebte Calvinos Baron Cosimo Piovasco di Rondò auf den Bäumen; nicht um sich der intellektuellen Pflicht zu entziehen, die eigene Zeit zu begreifen und an ihr teilzunehmen, sondern um sie besser zu begreifen und intensiver an ihr teilzunehmen.
    Aber auch wenn es taktische Räume des Schweigens wählt, erfordert das Nachdenken über den Krieg am Ende, daß dieses Schweigen mit lauter Stimme verkündet wird. Im Bewußtsein der Widersprüche einer Proklamation des Schweigens, der Überzeugungskraft eines Aktes der Ohnmacht und der Tatsache, daß uns das Nachdenken nicht davon enthebt, individuelle Verantwortung zu übernehmen. Erste Pflicht ist es aber zu sagen, daß der Krieg heute jede menschliche Initiative zunichte macht und daß sogar sein scheinbares Ende (und der scheinbare Sieg einer der beiden Seiten) nicht das inzwischen selbständig gewordene Spiel der in ihrem eigenen Netz verfangenen
    Gewichte anzuhalten vermag. Denn ein Gewicht, schrieb Carlo Michelstaedter in La Persuasione e la rettorica, »hängt, sofern es Gewicht ist, herunter, und sofern es herunterhängt, hängt es von etwas ab [ … ] und doch will es immer weiter absinken, denn der nächste Punkt übertrifft an Niedrigkeit immer den, der es gerade hält [ … ]. Das Gewicht kann nie überzeugt werden.«
    Dieses stete Absinken kann nicht gerechtfertigt werden, denn
    – in Begriffen des Rechts der Gattung gesagt – es ist schlimmer als ein Verbrechen: Es ist eine Verschwendung.
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    Der immerwährende Faschismus
    1942, als ich zehn Jahre alt war, gewann ich den ersten Preis bei den Ludi Juveniles, einem freiwilligen Pflichtwettbewerb für junge italienische Faschisten – also für alle jungen Italiener. Ich hatte
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