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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften
Autoren: Umberto Eco
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mich mit rhetorischer Bravour über das Thema verbreitet:
    »Sollen wir für den Ruhm Mussolinis und die unsterbliche Bestimmung Italiens sterben?« Meine Antwort war positiv gewesen. Ich war ein heller Junge.
    1943 entdeckte ich dann die Bedeutung des Wortes Freiheit.
    Ich werde diese Geschichte am Ende erzählen. Damals bedeute-te Freiheit noch nicht Befreiung.
    Ich habe zwei meiner frühen Jahre zwischen einander beschie-
    ßenden SS-Männern, Mussolini-Faschisten und Partisanen verbracht und gelernt, den Kugeln aus dem Wege zu gehen. Das war keine schlechte Übung.
    Im April 1945 nahmen die Partisanen Mailand ein. Zwei Tage später kamen sie in die kleine Stadt, in der ich damals lebte. Es war ein Freudentag. Die zentrale Piazza war dichtgedrängt voller Menschen, die singend und fahnenschwingend nach Mimo riefen, dem Partisanenführer der Gegend. Mimo, ein ehemaliger Maresciallo der Carabinieri, hatte sich den Anhängern des Mussolini-Nachfolgers Badoglio angeschlossen und in einem der ersten Gefechte mit Mussolinis verbliebenen Truppen ein Bein verloren. Er erschien auf dem Balkon des Rathauses, blaß, auf seine Krücke gestützt, und versuchte mit der freien Hand die Menge zu beruhigen. Ich wartete gespannt auf seine Rede, denn meine ganze Kindheit war von den großen historischen Reden Mussolinis geprägt gewesen, deren bedeutendste Stellen wir in der Schule auswendig lernten. Stille. Mimo sprach mit einer rauhen Stimme, kaum hörbar. Er sagte: »Mitbürger, Freunde. Nach so vielen leidvollen Opfern … da sind wir 22
    wieder. Ehre den für die Freiheit Gefallenen.« Das war alles. Er ging wieder hinein. Die Menge jubelte, die Partisanen hoben ihre Gewehre und feuerten Freudenschüsse in die Luft. Wir Kinder stürzen hin, um die Patronenhülsen aufzusammeln, die kostbare Sammlerobjekte waren, aber ich hatte zugleich gelernt, daß Redefreiheit auch Freiheit von Rhetorik bedeutet.
    Einige Tage später sah ich die ersten amerikanischen Soldaten.
    Es waren Afroamerikaner. Der erste Yankee, dem ich begegnete, war ein Schwarzer namens Joseph, der mich mit den
    Wundern von Dick Tracy und Li’l Abner bekannt machte. Seine Comics waren bunt und hatten einen guten Geruch.
    Einer der Offiziere, Major oder Captain Muddy, war zu Gast in der Villa einer Familie, deren zwei Töchter in meine Klasse gingen. Ich begegnete ihm in ihrem Garten, wo ihn einige Damen umringten und in einem vagen Französisch auf ihn einredeten. Captain Muddy hatte eine gute Erziehung genossen und konnte auch ein bißchen Französisch. So war mein erstes Bild von den amerikanischen Befreiern, nach all den Bleichge-sichtern in Schwarzhemden, das eines kultivierten Schwarzen in gelbgrüner Uniform, der sagte: » Oui, merci beaucoup Madame, moi aussi j’aime le champagne … «
    Champagner gab es leider keinen, aber Captain Muddy
    schenkte mir meinen ersten Kaugummi, auf dem ich den ganzen Tag lang herumkaute. Nachts tat ich den Klumpen in ein Glas Wasser, um ihn für den nächsten Tag frisch zu halten.
    Im Mai hörten wir, daß der Krieg vorbei war. Der Friede verursachte mir ein eigenartiges Gefühl. Mir war gesagt worden, permanenter Krieg sei die normale Situation für einen jungen Italiener. In den folgenden Monaten entdeckte ich, daß es die Resistenza – den bewaffneten Widerstand – nicht nur bei uns, sondern in ganz Europa gegeben hatte. Ich lernte neue, erregen-de Worte wie réseau, maquis, armée secrète, Rote Kapelle, Warschauer Ghetto. Ich sah die ersten Photographien vom Holocaust, und so verstand ich seine Bedeutung, bevor ich das 23
    Wort kennenlernte. Mir wurde klar, wovon wir befreit worden waren.
    Heute gibt es in Italien Leute, die sich fragen, ob die Resistenza wirklich militärischen Einfluß auf den Verlauf des Krieges gehabt hat. Für meine Generation ist diese Frage irrelevant: Wir begriffen die moralische und psychologische Bedeutung der Resistenza sofort. Es machte uns stolz zu wissen, daß wir Europäer die Befreiung nicht passiv erwartet hatten. Und ich denke, daß es auch für die jungen Amerikaner, die mit ihrem Blut für die Wiederherstellung unserer Freiheit bezahlten, nicht ohne Bedeutung war, zu wissen, daß es hinter den Linien Europäer gab, die ihre Schulden bereits zurückzahlten.
    Heute gibt es in Italien Leute, die sagen, der Mythos der Resistenza sei eine kommunistische Lüge gewesen. Wahr ist, daß die Kommunisten die Resistenza wie ein persönliches Eigentum ausgebeutet haben, da sie eine führende
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