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Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt
Autoren: Mike Mignola
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Kapitel 1
    O rlov der Beschwörer träumt, ein Gespenst zu sein. Er schwebt in der Ecke eines seltsam verzierten Raumes, einer winzigen Kathedrale aus maurischen Säulen und Glasfenstern, wie in einem Aquarium. Durch diese Fenster sieht er Seegras, Rankenfußkrebse und zahllose Fische der unterschiedlichsten Arten. Die Meerestiere begegnen den grässlichen Schreien und blutigen Perversionen in dieser Kammer des Schreckens mit erhabener Gleichgültigkeit.
    Der gespenstische Orlov wischt sich Tränen des Kummers aus den Augen, denn er kann der Frau nicht helfen, die grotesk verrenkt auf dem Altar aus gelbem Marmor liegt. Die Altarplatte ist von Rinnen durchzogen, durch die das Blut und andere Körperflüssigkeiten abfließen sollen. Sie strömen in zwei Fallrohre an der niedrigeren Seite des leicht abgeschrägten Altars und verschwinden in einem kleinen Loch im Dunkeln. Von dort sickern das Blut der Frau, ihr Auswurf und ihre Geburtsflüssigkeit in den Boden, um dort ein Wesen zu nähren, das hungrig ist.
    Die Frau ist an Händen und Füßen mit rostigen Eisenketten gefesselt, die so gar nicht zu dem sauberen Marmor passen. Die Kettenenden an eisernen Ringen, die rings um den Altar im Boden verankert sind.
    Als machtloser Schemen kann Orlov nur hilflos zuschauen, wie der Körper der Frau zuckt und sich windet. Die Ketten sollen sie nicht an der Flucht hindern, sondern vermeiden, dass die Eruptionen ihres Fleisches sie vom Altar schleudern. Ihr aufgetriebener Bauch bewegt sich grotesk unter den Bewegungen in seinem Innern, als drei Gestalten in blutroten Roben sich über sie beugen. Sie betasten den zuckenden Körper und erkunden mit klinischem Interesse die Leibesöffnungen. Sie haben die Haut der Frau mit Ockerfarbe bemalt und mit Runen bedeckt, deren Bedeutung Orlov verborgen bleibt. Immer wieder bäumt die Frau sich auf, denn die Farbe brennt wie Säure, und die magischen Runen fressen sich in ihre Haut.
    Orlov hasst die rot gekleideten Gestalten. Zornig ballt er seine Phantomfäuste, doch seine Wut ist machtlos und ohne Folgen. In diesem Traum gilt er nichts, weniger als nichts. Er ist ein Schattenwesen. Er kann der Frau nicht helfen, kann nicht einmal ihre Peiniger verfluchen, denn als Schatten hat er keine Stimme.
    Voller Hass betrachtet er den Irren, der wie eine Ziege umherhüpft und das grauenhafte Geschehen in dieser Kammer bestimmt. Das verfilzte Haar des Okkultisten ist mit einem rostigen Metallring nach hinten gebunden; zwei weitere Ringe halten die beiden Zöpfe, die er aus seinem Bart geflochten hat. Während seine Diener gelassen wirken, als sie nun das Fleisch der Frau bearbeiten, merkt man dem Irren seine Begeisterung und eine beinahe kindliche Freude an, vermischt mit sexueller Erregung. Er umkreist den Altar, drängt sich immer wieder zwischen die drei blutroten Gestalten und führt einen fremdartigen Gegenstand dicht über den Körper der Frau, wobei er einen kehligen Gesang ausstößt.
    Irgendwoher kennt Orlov den Gegenstand, den der Verrückte in derHand hält. Aber wie kann das sein? Ist er, Orlov, eine Art Hausgeist im Unterbewusstsein des Okkultisten? Spukt er durch den Traum dieses Irren?
    Wie dem auch sei, Orlov kennt den Gegenstand. Es handelt sich um Lectors Pentajulum, einen Knoten aus Röhrchen und kleinen Kammern, der an das Herz eines Menschen erinnert, jedoch aus einer farbenprächtigen, unbekannten Substanz besteht, die in ihren Eigenschaften an Bernstein und Meerglas erinnert. Das Pentajulum wirkt unveränderlich und starr, aber schon die winzigste Bewegung verwandelt sein Aussehen. Orlov weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht ist es eine Täuschung des Auges oder eine Irreführung des Lichts. Oder es ist das Ergebnis einer fremdartigen Geometrie, die der menschliche Verstand nicht zu erfassen vermag.
    Der Okkultist starrt auf das Pentajulum, als wäre es die letzte Hoffnung für ihn   – und mit einem Mal begreift Orlov, dass es tatsächlich so ist. Die Frau des Okkultisten ist tot, zerfällt in ihrem Grab zu Staub, und nun glaubt dieser Wahnsinnige, das Pentajulum könne sie ins Leben zurückrufen, wenn es ihm gelingt, die Kräfte dieses Gegenstands zu wecken. Dieser Irre hält den Tod für den Schlüssel zum Leben. Wenn die Frau auf dem Altar stirbt, so glaubt er, würden ihr Schmerz, ihre Qual und die letztendliche Unterwerfung, wenn die Flamme ihres Lebens erlischt, durch die in ihr Fleisch gebrannten Runen in das Pentajulum geleitet.
    Die Ketten klirren, als die Frau
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