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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften
Autoren: Umberto Eco
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Siegerwerten, wir hatten andere Werte, wollt ihr die nicht respektieren? Nein, denn wir haben gesiegt, und da zu euren Werten die Verherrlichung der Stärke gehörte, wenden wir unsere Stärke an und hängen euch auf. Aber was wird dann mit den künftigen Kriegen? Wer sie entfesselt, muß wissen, daß er, wenn er verliert, aufgehängt wird; überlege er sich’s vorher.
    Aber auch ihr habt gräßliche Dinge getan! Ja, aber das sagt ihr, die Verlierer; wir haben gewonnen, und darum sind wir es, die euch aufhängen. Dann nehmt die Verantwortung auf euch! Wir nehmen die Verantwortung auf uns.
    Ich bin gegen die Todesstrafe, und selbst einen Hitler hätte ich nur nach Alcatraz geschickt; deshalb werde ich »Aufhängen«
    von jetzt an nur noch symbolisch gebrauchen, im Sinne einer harten und demonstrativen Bestrafung. Aber abgesehen vom Aufhängen ist die Nürnberger Argumentation ohne Tadel.
    Angesichts untolerierbarer Verhaltensweisen muß man den Mut haben, die Regeln zu ändern, einschließlich der Gesetze. Darf ein Gericht in Holland über das Verhalten von jemand in Serbien oder in Bosnien richten? Nach den alten Regeln nicht, nach den neuen schon.
    67
    Ende 1992 gab es in Paris einen Kongreß über das Thema der Intervention, an dem Juristen, Militärs, überzeugte Pazifisten, Philosophen und Politiker teilnahmen. Die Frage war, mit welchem Recht und nach welchen Kriterien der Besonnenheit man in die Angelegenheiten eines anderen Landes eingreifen darf, wenn man der Meinung ist, daß dort etwas für die internationale Gemeinschaft Untolerierbares geschieht. Außer dem klaren Fall, in dem eine noch herrschende legitime Regierung um Hilfe gegen eine Invasion bittet, boten sich alle anderen Fälle zu subtilen Differenzierungen an. Wer bittet uns zu intervenieren? Ein Teil der Bürger? Wie repräsentativ ist dieser Teil für das Land, verbirgt sich hinter einer Intervention mit edelsten Absichten nicht eine unzulässige Einmischung, ein imperialistischer Wille? Intervenieren wir, wenn das, was in dem betreffenden Land passiert, gegen unsere ethischen Grundsätze verstößt? Sind unsere Grundsätze auch die ihren?
    Intervenieren wir, weil in einem Land seit Jahrtausenden ein ritueller Kannibalismus praktiziert wird, der für uns ein Greuel, für sie aber eine religiöse Übung ist? War das nicht die Art, wie der weiße Mann seine tugendhafte Bürde auf sich nahm, um uralte Kulturvölker zu unterwerfen?
    Die einzige Antwort, die mir akzeptabel erschien, war: Mit Interventionen verhält es sich wie mit Revolutionen, es gibt kein vorgängiges Gesetz, dem wir entnehmen könnten, daß es gut sei, sie zu machen, im Gegenteil, man macht sie gegen die Gesetze und die Gewohnheiten. Der Unterschied liegt darin, daß die Entscheidung für eine internationale Intervention nicht von einer diamantharten »Speerspitze« oder einem unkontrollierbaren Volksaufstand getroffen wird, sondern durch eine Diskussion zwischen verschiedenen Regierungen und Völkern zustande kommt. Man kommt zu dem Schluß, daß etwas, sosehr man die Ansichten, Gebräuche, religiösen Praktiken und Glaubensvor-stellungen anderer respektieren muß, untolerierbar ist.
    Hinnahme des Untolerierbaren stellt die eigene Identität in 68
    Frage. Man muß die Verantwortung auf sich nehmen, zu
    entscheiden, was untolerierbar ist, und dann handeln in der Bereitschaft, den Preis für einen Irrtum zu zahlen.
    Wenn etwas Untolerierbares auftritt, das es noch nie gegeben hat, ist die Grenze des Tolerierbaren, also die Schwelle des Untolerierbaren, nicht mehr die, die von den alten Gesetzen festgelegt wurde. Man muß neue Gesetze machen. Gewiß muß man dabei sicher sein, daß der Konsens über die neue Schwelle des Untolerierbaren so breit wie möglich ist, daß er die nationalen Grenzen überschreitet und in gewissem Maße von der
    »Weltgemeinschaft« getragen wird (ein schwer zu fassender Begriff, der jedoch sogar unserem Glauben an die Drehung der Erde zugrundeliegt). Aber dann muß man sich entscheiden.
    Was durch den Nazismus und den Holocaust geschehen ist, hat eine neue Schwelle des Untolerierbaren gesetzt. Völkermorde hat es in der Geschichte schon viele gegeben, und in gewisser Weise haben wir sie alle toleriert. Wir waren schwach, wir waren Barbaren, wir wußten nicht, was zehn Meilen außerhalb unseres Dorfes geschah. Aber dieser ist in »wissenschaftlichen«
    Termini untermauert (und verwirklicht) worden, mit ausdrücklicher Forderung nach Konsens, auch
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