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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften
Autoren: Umberto Eco
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vergangen sind (auch wenn wir wissen, daß Christus keineswegs im Jahre Null unserer Zeit-rechnung geboren wurde). Wir können nicht »für die westliche Welt« sagen, weil die christliche Welt sich auch auf orientalische Kulturen erstreckt und weil zur sogenannten »westlichen«
    Welt auch Israel gehört, das zwar unsere Zählung der Jahre als Common Era betrachtet, aber in seiner Kultur eine andere Zählung praktiziert.
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    Andererseits hatte im 17. Jahrhundert der Protestant Isaac de la Peyrère entdeckt, daß die chinesischen Chronologien noch viel älter als die jüdischen waren, und hatte die Hypothese aufge-stellt, daß die Erbsünde nur für die Nachkommen Adams gelte, nicht aber für andere, lange vorher geborene Rassen. Natürlich war er zum Häretiker erklärt worden, doch ob er nun aus theologischer Sicht im Unrecht war oder nicht, er reagierte auf eine Tatsache, die heute niemand mehr bezweifelt: Die verschiedenen Datierungsweisen, die in verschiedenen Kulturen gebräuchlich sind, reflektieren verschiedene Theogonien und Historiographien, und die christliche ist nur eine unter vielen (ich möchte auch zu bedenken geben, daß die Zählung ab anno Domini nicht so alt ist, wie man gemeinhin glaubt: noch im hohen Mittelalter zählte man die Jahre nicht seit der Geburt Christi, sondern seit der mutmaßlichen Erschaffung der Welt).
    Ich denke, man wird das Jahr 2000 auch in Singapur und in Peking feiern, einfach wegen der Dominanz des europäischen Modells. Alle werden vermutlich die Ankunft des neuen
    Jahrtausends feiern, aber für die Mehrheit der Völker dieser Erde wird sie eher eine kommerzielle Konvention als eine innere Überzeugung sein. Wenn in China lange vor unserem Jahr Null eine Hochkultur blühte (und im übrigen wissen wir ja, daß vor diesem Jahr auch im Mittelmeerraum andere Hochkulturen blühten, wir haben uns nur darauf geeinigt, die Jahre, in denen Platon und Aristoteles lebten, als »vor Christus« zu zählen), was bedeutet es dann, das Jahr 2000 zu feiern? Es bedeutet den Triumph des Modells, das ich nicht das christliche nennen will (denn auch die Atheisten werden das Jahr 2000 feiern), aber jedenfalls das europäische, das bekanntlich, nachdem Christoph Columbus Amerika »entdeckt« hat – die Indianer sagen, daß sie damals uns entdeckt haben –, auch das amerikanische Modell geworden ist.
    Wenn wir das Jahr 2000 feiern, welches Jahr wird dann für die Muslime, die australischen Aborigenes, die Chinesen sein?
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    Gewiß braucht uns das nicht zu interessieren. Das Jahr 2000 ist unser Datum, es ist ein eurozentrisches Datum, es ist unsere Angelegenheit. Aber einmal abgesehen von der Tatsache, daß das eurozentrische Modell auch die amerikanische Kultur zu dominieren scheint – dabei gibt es auch amerikanische Bürger afrikanischer, orientalischer, indianischer Herkunft, die sich nicht mit diesem Modell identifizieren –, haben wir Europäer überhaupt noch das Recht, uns mit dem eurozentrischen Modell zu identifizieren?
    Vor einigen Jahren, als in Paris die Académie Universelle des Cultures gegründet wurde, die Künstler und Wissenschaftler aus allen Ländern der Welt versammelt, ist für diese Akademie eine Charta aufgesetzt worden. Und eine der einleitenden Erklärungen dieser Charta, die auch die wissenschaftlichen und moralischen Aufgaben der neuen Akademie definieren sollte, sagt voraus, daß wir in Europa im nächsten Jahrtausend ein großes »Gemisch von Kulturen« haben werden.
    Wenn sich die Entwicklung nicht plötzlich umkehrt (und alles ist möglich), müssen wir uns darauf gefaßt machen, daß es in Europa im nächsten Jahrtausend wie in New York oder in einigen lateinamerikanischen Ländern zugehen wird. In New York erleben wir die Negation des Konzepts vom melting pot, verschiedene Kulturen existieren nebeneinander, von den Puertoricanern bis zu den Chinesen, von den Koreanern bis zu den Pakistani; einige Gruppen haben sich miteinander vermischt (wie Italiener und Iren, Juden und Polen), andere bleiben getrennt (in verschiedenen Vierteln, wo sie verschiedene Sprachen sprechen und verschiedene Traditionen pflegen), und alle treffen sich auf der Basis einiger allgemeingültiger Gesetze und einer allgemeingültigen Verkehrssprache, des Englischen, das jeder leidlich genug spricht, um sich verständigen zu können. Ich gebe zu bedenken, daß in New York, wo die
    sogenannte »weiße« Bevölkerung im Begriff ist, eine Minderheit zu werden, 42 Prozent dieser Weißen Juden
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