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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften
Autoren: Umberto Eco
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fundamentalistische Sekte vorstellen, die überzeugt ist, daß ihre Mitglieder das Privileg der richtigen Bibelauslegung haben, und die trotzdem keinerlei Form von Proselytenmacherei betreibt, weder um die anderen zu zwingen, ihre Glaubensinhalte zu teilen, noch um für die Verwirklichung einer auf sie begründeten politischen Gesellschaft zu kämpfen.
    Unter »Integralismus« versteht man dagegen eine religiöse und politische Position, für welche die religiösen Prinzipien gleichzeitig das Modell des politischen Lebens und die Quelle der Gesetze des Staates werden müssen. Während der Fundamentalismus und der Traditionalismus im Prinzip konservativ sind, gibt es Integralismen, die sich als progressiv und revolutionär verstehen. Es gibt katholisch-integralistische
    Bewegungen, die nicht fundamentalistisch sind, die sich für eine 60
    gänzlich an den religiösen Prinzipien inspirierte Gesellschaft einsetzen, ohne deswegen eine wörtliche Auslegung der Schrift zu verlangen, und die womöglich bereit sind, eine Theologie à la Teilhard de Chardin zu akzeptieren.
    Die Nuancen können sogar noch feiner sein. Man denke nur an das Phänomen der political correctness in Amerika. Sie ist entstanden, um die Toleranz und die Anerkennung aller religiö-
    sen, rassischen und sexuellen Unterschiede zu fördern, aber sie entwickelt sich immer mehr zu einem neuen Fundamentalismus, der in fast ritueller Weise die Alltagssprache durchdringt und sich zum Schaden des Geistes an den Buchstaben klammert.
    Inzwischen darf man einen Blinden notfalls auch diskriminieren, solange man nur das Zartgefühl hat, ihn einen »Nichtsehenden«
    zu nennen, und vor allem darf man diejenigen diskriminieren, die sich nicht an die Regeln der political correctness halten.
    Und der Rassismus? Der nazistische Rassismus war zweifellos totalitär, und er nannte sich »wissenschaftlich«, aber seine Rassenlehre enthielt nichts Fundamentalistisches. Ein nichtwis-senschaftlicher Rassismus wie derjenige der Lega Nord hat nicht die gleichen kulturellen Wurzeln wie der pseudowissenschaftli-che (er hat in Wirklichkeit überhaupt keine kulturellen Wurzeln), aber er ist gleichwohl ein Rassismus.
    Und die Intoleranz? Reduziert sie sich auf die Unterschiede und Verwandtschaften zwischen Fundamentalismus, Integralismus und Rassismus? Es hat auch Formen von nichtrassistischer Intoleranz gegeben (wie die Ketzerverfolgung oder die Intoleranz der Diktaturen gegenüber ihren politischen Gegnern).
    Intoleranz ist etwas sehr viel Tieferliegendes, es steckt an der Wurzel aller hier angesprochenen Phänomene.
    Fundamentalismus, Integralismus und pseudowissenschaftlicher Rassismus sind theoretische Positionen, die eine Doktrin voraussetzen. Intoleranz beginnt vor jeder Doktrin. In diesem Sinne hat sie biologische Wurzeln, sie äußert sich bei den Tieren als Kampf ums Territorium, sie gründet sich auf gefühlsmäßige, 61
    oft oberflächliche Reaktionen – wir ertragen die Andersartigen nicht, weil sie eine andere Hautfarbe haben, weil sie eine uns unverständliche Sprache sprechen, weil sie Frösche, Hunde, Affen, Schweinefleisch. Knoblauch essen, weil sie sich tätowie-ren lassen und so weiter.
    Intoleranz gegenüber dem Andersartigen oder Unbekannten ist beim Kind so natürlich wie der Instinkt, sich alles, was es haben will, einfach zu nehmen. Das Kind wird nach und nach zur Toleranz erzogen, so wie es zur Achtung des Eigentums anderer erzogen wird und davor noch zur Kontrolle des eigenen
    Schließmuskels. Doch während die Kinder in der Regel zur Kontrolle ihres Körpers gelangen, bleibt Toleranz leider ein Problem der permanenten Erwachsenenbildung, denn im
    täglichen Leben ist man ständig dem Trauma der Verschiedenheit ausgesetzt. Die Forscher beschäftigen sich häufig mit den Doktrinen der Verschiedenheit, aber nicht häufig genug mit der vor jeder Doktrin angesiedelten wilden oder rohen Intoleranz, die sich jeder kritischen Definition und Wesensbestimmung entzieht.
    Es ist jedoch nicht so, daß die Doktrinen der Verschiedenheit diese rohe Intoleranz hervorbrächten. Im Gegenteil, die Doktrinen machen sich einen bereits diffus vorhandenen Bodensatz von Intoleranz zunutze. Denken wir an die Hexenjagd. Sie ist kein Produkt der »dunklen Zeitalter«, sondern eines der Neuzeit.
    Der Malleus Maleficarum oder Hexenhammer wurde sechs Jahre vor der Entdeckung Amerikas geschrieben, er ist ein Zeitgenosse des florentinischen Humanismus; die Démonomanie des sorciers von
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