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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften
Autoren: Umberto Eco
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Fragen, die einen ärgerlich machen können, wie wenn man gefragt wird, was passiert sei, kaum daß man sich auf die Zunge gebissen hat. »Was denkst du darüber?« wird man in diesen Tagen ständig gefragt, in denen alle (außer ganz wenigen) über das Urteil gegen Priebke dasselbe denken. Und die so fragen, sind beinahe enttäuscht, wenn man dann antwortet, daß man selbstverständlich empört und bestürzt ist, denn im Grunde stellt jeder dem anderen die Frage in der Hoffnung, eine Antwort zu hören, die seine Empörung und Bestürzung ein wenig verringert.
    Man schämt sich fast, darüber zu reden, sich auf so billige Weise allgemeine Zustimmung zu erwerben, als Virtuose unter Virtuosen in einem Parteienspektrum, das von der Rifondazione Comunista bis zur Alleanza Nazionale reicht. Als hätte das römische Militärgericht fast alle Italiener endlich dazu gebracht, einer Meinung zu sein. Wir stehen alle auf der richtigen Seite.
    Und wenn die Affäre Priebke nun über den alles in allem doch ziemlich öden Einzelfall (ein straflos gebliebener Verbrecher, ein feiges Gericht) hinausginge und uns tiefer beträfe, indem sie uns suggerierte, daß auch wir nicht unschuldig sind?
    Betrachten wir das Geschehene noch einmal aus der Perspektive des geltenden Rechts. Nach geltendem Recht hätte Priebke vielleicht zu lebenslänglicher Haft verurteilt werden können, aber juristisch gesprochen kann man nicht sagen, daß sich das römische Militärgericht unbegreiflich verhalten hätte. Es ging um einen geständigen Verbrecher, der ein grauenhaftes Verbrechen begangen hatte, also mußte man prüfen, ob es mildernde 65
    Umstände gab, wie es jedes Gericht tun muß. Nun, es waren finstere Zeiten, Priebke war kein Held, sondern ein armseliger Feigling, und selbst wenn ihm die Außerordentlichkeit des Verbrechens bewußt geworden wäre, hätte er Angst vor den Folgen einer Weigerung gehabt; er hat fünf Menschen zusätzlich getötet, aber wenn man im Blutrausch ist, wird man bekanntlich zur Bestie; er ist zweifellos schuldig, aber statt lebenslänglich geben wir ihm eine langjährige Gefängnisstrafe; dem Recht ist Genüge getan, die Verjährung tritt ein, beenden wir ein leidvolles Kapitel. Hätten wir nicht auch über Raskolnikow so geurteilt, der eine alte Frau erschlagen hatte, und das ohne militärische Rechtfertigungen?
    Wir sind es, die den Richtern das Mandat erteilt haben, nach geltendem Recht zu verfahren, und jetzt setzen wir ihnen einen moralischen Anspruch entgegen, eine Leidenschaft. Worauf sie erwidern, daß sie Männer des Rechts sind und keine Killer.
    Auch viele der Einsprüche drehten sich um die Auslegung des geschriebenen Rechts. Priebke mußte den Befehlen gehorchen, so will es das Militärrecht eines im Krieg befindlichen Landes.
    Nein, es gab auch in Nazi-Deutschland Gesetze, die ihm erlaubten, sich einem unrechten Befehl zu entziehen, und außerdem mußte er nicht nach dem Militärrecht verurteilt werden, denn die SS war ein freiwilliges Polizeikorps. Aber die internationalen Konventionen gestatten die Durchführung von Repressalien. Ja, kann man antworten, aber nur im Falle eines erklärten Krieges, und soweit bekannt hatte das Deutsche Reich dem Königreich Italien niemals den Krieg erklärt; infolgedessen konnten die Deutschen als illegale Besatzer eines Landes, mit dem sie nicht offiziell im Krieg lagen, sich nicht beschweren, wenn jemand als Straßenkehrer verkleidet ihnen einen Konvoi in die Luft sprengte.
    Man wird immer in diesem Zirkel bleiben, solange nicht der Beschluß gefaßt wird, daß die Menschheit sich angesichts außerordentlicher Ereignisse nicht erlauben kann, einfach 66
    geltendes Recht anzuwenden, sondern die Verantwortung auf sich nehmen muß, neue Gesetze zu schaffen.
    Wir haben noch nicht alle Konsequenzen aus jenem epochalen Ereignis gezogen, das der Nürnberger Prozeß gewesen war.
    Unter dem Gesichtspunkt der strikten Legalität oder der internationalen Gebräuche war er ein Akt der Willkür.
    Jahrhundertelang hatte man uns daran gewöhnt, daß Krieg ein geregeltes Spiel war, in dem der besiegte König am Ende seinen siegreichen Vetter umarmt, und was macht ihr da? Ihr nehmt die Besiegten und knüpft sie auf? Yes sir, antworten diejenigen, die den Nürnberger Prozeß beschlossen haben: Wir sind der
    Meinung, daß in diesem Krieg Dinge geschehen sind, die jenseits des Tolerierbaren liegen, und deshalb ändern wir die Regeln. Aber untolerierbar sind diese Dinge nur gemessen an euren
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