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Vier moralische Schriften

Vier moralische Schriften

Titel: Vier moralische Schriften
Autoren: Umberto Eco
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Jean Bodin entstammt der Feder eines Renais-sancemenschen, der nach Kopernikus schrieb. Ich will hier nicht erklären, warum die neuzeitliche Welt theoretische Rechtfertigungen für die Hexenjagd produziert. Ich möchte nur daran erinnern, daß die Hexenlehre sich deswegen durchsetzen konnte, weil es bereits einen im Volk verbreiteten Glauben an die Existenz von Hexen gab. Dieser Glaube findet sich in der Antike 62
    (Horaz), im langobardischen Edictum Rothari, in der Summa Theologica des Thomas von Aquin. Man rechnete mit den Hexen als einer alltäglichen Realität, so wie unser Strafgesetz-buch mit der Existenz von Handtaschenräubern rechnet. Ohne diesen Volksglauben hätte sich eine Doktrin des Hexenwesens und eine systematische Verfolgungspraxis nicht ausbreiten können.
    Der »wissenschaftliche« Antisemitismus kam im Laufe des 19.
    Jahrhunderts auf und wurde in unserem Jahrhundert zu einer totalitären Anthropologie und zur industriellen Praxis des Völkermords. Aber er hätte nicht entstehen können, wenn es nicht bereits seit Jahrhunderten, seit den Zeiten der Kirchenvä-
    ter, eine antijüdische Polemik gegeben hätte und im einfachen Volk einen praktischen Antisemitismus, der überall dort sein Unwesen trieb, wo es Ghettos gab. Die antijakobinischen Theorien über eine jüdische Weltverschwörung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkamen, haben den volkstümlichen Antisemitismus nicht geschaffen, sondern nur einen bereits vorhandenen Haß auf die Andersartigen ausgebeutet.
    Die gefährlichste Intoleranz ist genau diejenige, die ohne jede Doktrin oder Theorie allein aufgrund elementarer Triebe entsteht. Deswegen kann sie nicht mit Vernunftargumenten kritisiert und aufgehalten werden. Die theoretischen Grundlagen von Hitlers Mein Kampf lassen sich mit einer Reihe von ziemlich elementaren Argumentationen widerlegen, aber wenn die Ideen, die das Buch propagierte, überlebt haben und jeden Einwand überleben werden, dann deshalb, weil sie sich auf eine rohe Intoleranz stützen, die gegen jede Kritik immun ist. Ich finde die Intoleranz von Bossis Lega Nord gefährlicher als die des Front National von Le Pen. Le Pen hat hinter sich immer noch Intellektuelle, die Verrat begangen haben, während Bossi nichts anderes hat als rohe Triebe.

    63
    Man sehe nur, was dieser Tage in Italien geschieht, nachdem in kaum mehr als einer Woche zwölftausend Albaner ins Land gekommen sind. Offiziell und öffentlich ist nur von Aufnahme aus humanitären Gründen die Rede, und der größte Teil derer, die diesen Exodus stoppen wollen, weil er unerträglich werden könnte, führt ökonomische und demographische Argumente an, nicht etwa rassistische. Aber alle Theorie wird zunichte vor der schleichenden Intoleranz, die jeden Tag mehr um sich greift. Die rohe Intoleranz gründet sich auf einen kategorialen Kurzschluß, den sie jedem zukünftigen Rassismus als Leihgabe anbieten kann: Wenn einige der in den letzten Jahren nach Italien gekommenen Albaner Diebe und Prostituierte geworden sind (was stimmt), dann sind alle Albaner potentielle Diebe und Prostituierte.
    Dieser Kurzschluß ist um so schrecklicher, weil er für jeden von uns eine ständige Versuchung darstellt - es genügt, daß uns auf dem Flughafen eines beliebigen Landes der Koffer gestohlen worden ist, und schon behaupten wir, daß man den Bewohnern jenes Landes nicht trauen dürfe.
    Noch einmal, die schlimmste Intoleranz ist die der Armen, die immer die ersten Opfer der Verschiedenheit sind. Unter den Reichen gibt es keinen Rassismus. Die Reichen haben höchstens die Doktrinen des Rassismus produziert, die Armen produzieren seine Praxis, die viel gefährlicher ist.
    Die Intellektuellen können gegen die rohe Intoleranz nichts ausrichten, denn vor dem rein Animalischen, das kein Denken kennt, ist das Denken wehrlos. Und wenn sie gegen die doktri-nale Intoleranz kämpfen, ist es zu spät, denn sobald die Intoleranz zur Doktrin gerinnt, ist sie nicht mehr zu besiegen, und die es tun müßten, werden zu ihren ersten Opfern.
    Und doch liegt hier die Herausforderung. Erwachsene Menschen, die aus ethnischen und/oder religiösen Gründen
    aufeinander schießen, zur Toleranz erziehen zu wollen, ist Zeitvergeudung. Zu spät. Die rohe Intoleranz muß an der 64
    Wurzel bekämpft werden, durch eine permanente Erziehung, die im zartesten Alter beginnt, bevor sie zu einer Doktrin gerinnt und bevor sie eine zu dicke und harte Verhaltenskruste wird.
    3. Das Untolerierbare
    Es gibt
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