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Der Sieg nach dem Krieg

Der Sieg nach dem Krieg

Titel: Der Sieg nach dem Krieg
Autoren: Oliver Hassencamp
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Tief über Deutschland

    Grossmutter tot — stop — komme sofort — stop — kann Zimmer sonst nicht halten — Stopp -
    E ine treffendere Kurzgeschichte über die Lage in Deutschland im Winter 45/46 ist mir nicht bekannt. Ein Zimmer war damals alles. Selbst wenn es alles andere war als ein Zimmer.
    Die Meldung über das Ableben war im Wohnungsamt gerade eingegangen, da stand ich schon mit Anmeldeformular in der Schlange vor dem Eckhaus an der Goethestraße in München. Ein Krückstock diente mir als moralischer Dringlichkeitsausweis. Leider war er echt, kein ausgeborgtes Requisit, um das Schlangestehen abzukürzen. Damals mußte einem etwas fehlen, damit man etwas bekam. Etwas Unnötiges. Das Nötige fehlte ohnehin. Der Alltag bestand vornehmlich aus Mangel und Verboten. Ihn zu bestehen, hieß beides umgehen, abwechselnd oder simultan. Ständig mußte man sich etwas einfallen lassen. Überleben war eine Frage der Kreativität.
    Die Stunde der Schieber hatte geschlagen, der Nachkriegsgewinnler, Profitmacher, die sich über Gesetze, Sitten und Anstand hinwegsetzten, aber auch die Stunde einzelkämpferischer Käuze, die in Hinterzimmern ahnungslos an Imperien bastelten. Später nannte man die Erfolgreichsten beider Lager »Unternehmer«.
    Auch der Normalverbraucher an Kalorien, Skrupeln und Phantasien schöpfte, da Not bekanntlich erfinderisch macht, aus kleinen Erfolgserlebnissen Kraft, um das Überlebthaben zu überleben. Gewiß, außerhalb der Legalität zumeist. Wenn etwa jemand einen dringend benötigten, aber unerreichbaren Stempel mittels eines hartgekochten Eies heimlich von einem echten Formular abnahm und ihn auf ein fingiertes übertrug. Das kostete mitunter Zeit, galt es doch, vorab an ein hartgekochtes Ei zu kommen. Kleinste Erleichterungen erforderten viele, scheinbar unzusammenhängende Arbeitsgänge.
    Eilig rekrutierte, halbwegs weißwestige deutsche Behörden verwalteten die Not. Von einer der Landessprache wie der Mentalität gleichermaßen unkundigen Militärregierung mit Argwohn beobachtet, gaben sie ihre Ohnmacht mit viel gutem Willen an den Bürger weiter. Dem waren Unzumutbarkeiten seit Jahren so vertraut, daß er auch ohne Androhung der Todesstrafe nicht aufmuckte. Die Notverwaltung funktionierte nach dem Prinzip der sparsamen Hausfrau. Wie Mutter die Suppe mit allerlei obskuren Zutaten streckte, damit sie für alle Mäuler reiche, wurde jeder Engpaß nach bewährter Behördentradition durch zusätzliche Bestimmungen und Verordnungen in Unter-Engpässe aufgesplittert. Dieses Splitting — man lernte gerade die ersten neudeutschen Wörter — hatte seine eigene Logik: Je weniger möglichst wenige bekommen, desto länger wird das Nichtvorhandene reichen.
    Um Zeit zu gewinnen, verschob man die Zeit.
    Der Bürger seinerseits konnte nicht warten und verschob, was ihm in die Finger kam. Er schleppte ran und beiseite, tauschte, täuschte, sich und andere, tauchte auf und unter und lebte, um im Bild dieser manuellen Zeit zu bleiben, nach der geballten Faustregel: Was du brauchst, mußt du schon haben, um es offiziell bekommen zu können, beziehungsweise besitzen zu dürfen. Und für alle Fälle immer einen Absagetransformator in der Hinterhand. Am besten einen mit englischem Namen. Ein Päckchen amerikanischer Zigaretten zum Beispiel, unter einem Formular verborgen dem Beamten über den Tisch gereicht, verwandelte Unbestechlichkeit in Unbedenklichkeit, mit Stempel und Unterschrift.
    Dem Ernst der Lage ließ sich nur trotzen, indem man ihn ignorierte. Das möglichst trickreich. Überspitzt ausgedrückt dachte das ganze Volk in Kategorien von früheren Studentenstreichen. Für die Psyche ein unübertroffener Jungbrunnen. Noch heute genügt ein Stichwort, und spitzbübisches Seniorenschmunzeln legt dritte Zähne frei. Kein Wunder, daß es millimeterweise aufwärts ging. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

    Der Besitz des Einweisungsscheines verlieh meinem — jawohl meinem — von fünfundzwanzig Watt erhellten Kellerraum die strahlende Atmosphäre eines Festsaals. Heizen ließ er sich, wie viele Säle, von Haus aus nicht. Ungewöhnlich länglich war er, ein Durchgangsraum für Leitungsrohre, die allerlei Geräusche transportierten, und trödlerhaft möbliert. Den Eindruck eines Abstellraums vereitelten notdürftig zwei Fenster. Sie überragten das Gehsteigniveau um satte dreißig Zentimeter. Dieser vergitterte Weltausschnitt bot Ausblick für Studien über den beklagenswerten Zustand deutschen
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