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Legenden der Traumzeit Roman

Legenden der Traumzeit Roman

Titel: Legenden der Traumzeit Roman
Autoren: Tamara McKinley
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Prolog
    Tiefe Verbundenheit
    Moonrakers Farm, New South Wales, 1835
    N ell Penhalligan erwiderte den Blick ihrer Enkelin und bemühte sich vergeblich um eine finstere Miene. Ruby war ein entzückendes Kind mit einem passenden Namen, denn sie hatte rotes Haar und ein aufbrausendes Temperament. Sie war so wissbegierig und herrisch, wie ihre Mutter Amy mit fünf Jahren gewesen war, und es fiel Nell schwer, angesichts Rubys entschlossenen forschenden Blicks nicht zu lächeln. »So zu starren ist unhöflich«, sagte sie milde.
    »Du bist heute sehr alt geworden, Grandma, nicht wahr?« Sie legte den Kopf schief, und die blauen Augen musterten sie eindringlich.
    Nell streckte den üppigen Busen vor. »Ich bin siebzig geworden«, sagte sie stolz.
    »Das ist noch gar nichts«, schaltete Alice Quince sich ein. »Ich bin schon vierundsiebzig.«
    Nell betrachtete die kleine Frau an ihrer Seite. »Ja, aber ich bin gesünder«, entgegnete sie. »Und ich arbeite noch von morgens bis abends.«
    »Phh!« Alice schob einige verirrte weiße Haarsträhnen unter ihre Haube zurück. »Das bisschen Waschen und Bügeln ist doch keine Arbeit«, sagte sie herablassend. »Ich helfe noch immer bei der Schafschur mit.«
    »Stehst im Weg rum, besser gesagt«, murmelte Nell.
    Das Kind hörte neugierig zu. »Warum streitest du dich mit Tante Alice, Grandma?«
    »Weil sie die meiste Zeit Unsinn redet«, schnaubte Nell und zog sich den dünnen Schal fester um die runden Schultern. Trotz der brennenden Sonne war ihr kalt. Sie hätte ihr dickeres Tuch mitnehmen sollen, doch sie würde nicht darum bitten – dann würde Alice garantiert spötteln, dass sie auch gar nichts aushalte.
    »Und du nicht?«, höhnte Alice. »Du stopfst den Kopf des Kindes mit lauter Quatsch voll – Sachen, die es unmöglich begreifen kann.«
    Nell blinzelte Ruby zu, die sie anstrahlte. »Ruby und ich verstehen uns blendend«, erklärte sie. »Besser, sie erfährt die Geschichten von mir als eine entstellte Version von Fremden.«
    »Ich glaube kaum, dass es angebracht ist, ihr etwas über deine Zeit als Strafgefangene zu erzählen«, murmelte Alice vor sich hin, während sie die knochigen Schultern als Zeichen ihrer Missbilligung straffte. »Vor allem, wenn man bedenkt, warum du verschifft wurdest.« Ihr funkelnder Blick sprach Bände.
    Nells Leben als Londoner Hure hatte mit ihrer Ankunft in Australien geendet. »Du weißt genau, dass ich ihr so was nicht erzähle«, fuhr sie Alice an.
    Ruby kletterte auf Nells breiten Schoß und schmiegte sich an sie. »Mir gefallen Grandmas Geschichten.« Sie schaute zu Nell auf. »Erzähl mir, wie Tante Alice beinahe von einem Dingo gefressen wurde und wie du ihn totgeschossen hast! Das ist gruselig.«
    Alice klappte ihren Fächer auf. »Ich erzähle die Geschichte viel besser als du«, brummte sie. »Schließlich hat der Dingo mich verfolgt.«
    »Ja, aber du würdest heute nicht hier stehen, wenn ich nicht so eine gute Schützin wäre«, gab Nell zurück. »Wird es nicht Zeit für dein Nachmittagsschläfchen?«
    Alice verengte die braunen Augen zu Schlitzen. »Nicht alle schnarchen sich durch den halben Tag«, konterte sie und erhobsich mühsam mit raschelnden Röcken, die im Sonnenlicht blauschwarz glänzten. »Ich bleibe nicht hier sitzen, während du dir das Ganze zurechtspinnst. Deine Tochter Sarah braucht Hilfe, sie teilt Tee aus.«
    Nell sah ihrer Freundin nach, wie sie über die Lichtung humpelte und vorsichtig die Treppe vor dem Haus überwand. Sie wurden beide gebrechlich; obwohl keine von ihnen auch nur im Traum daran dachte, es zuzugeben. Ja, trotz ihres ständigen Gezänks hatte ihr Witwenstand sie im Laufe der Jahre einander nähergebracht, und inzwischen waren sie wie Schwestern. Das Kind auf ihrem Schoß bewegte sich, und sie zuckte zusammen. Ihre Gelenke schmerzten, selbst unter Rubys Fliegengewicht beklagten sie sich. »Gib mir einen Kuss zum Geburtstag, Ruby, und dann geh und hilf deiner Mum!«
    »Aber ich will eine Geschichte hören«, schmollte sie.
    »Später«, versprach Nell.
    »Ich hab dich lieb, Grandma, und Tante Alice auch. Bitte, sei nicht sauer auf sie, denn sie ist wirklich so alt! Bindi sagt, er hört, wie die Geister für sie singen.« Das Kind zog die Stirn kraus. »Aber ich höre niemanden singen, du, Grandma?«
    Als Ruby ihr die Arme um den Hals schlang und ihre Wange küsste, überlief Nell ein kalter Schauer. Sie würde mit Bindi reden. Wie konnte dieser Aborigine es wagen, dem Kind mit seinem
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