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Legenden der Traumzeit Roman

Legenden der Traumzeit Roman

Titel: Legenden der Traumzeit Roman
Autoren: Tamara McKinley
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kam Nell auf die Beine. Sie brauchte eine Weile, um Atem zu schöpfen und ihre Haube zu richten. Es war eine alte, doch sie hatte die Bänder erneuert und sie mit ein paar Akazienzweigen geschmückt, die ihrem grünen Kleid schmeichelten. Sie war zwar alt, doch das war keine Entschuldigung, Maßstäbe herunterzuschrauben. Sie hatte nichts übrig für schwarze Trauerkleidung und schlichte Hauben, wie Alice sie bevorzugte, doch Alice hatte auch nie ein Auge für Abenteuer gehabt. Sie wartete, bis Sarah ihren Fächer und die gehäkelten Handschuhe aufgehoben hatte, hakte sich bei ihr unter und steuerte den Tisch an.
    »Das ist schon dein drittes Kuchenstück.«
    Nell hielt mitten im Kauen inne. »Wenigstens habe ich immer noch genug Zähne im Mund, um zu essen, was ich will.«
    »Weshalb du so dick bist.« Alice zog ihre Lippen ein.
    »Pff! Immer noch besser, als mager zu sein – das macht so alt. Außerdem pustet der leiseste Windhauch dich weg.«
    Alice verzog das Gesicht. »Um dich von der Stelle zu bewegen, müsste schon ein Hurrikan kommen«, brummelte sie. »Mich wundert, dass der Stuhl noch nicht zusammengebrochen ist.«
    »Mein Billy hat die Sachen für die Ewigkeit gebaut.« Sie aß ihren Kuchen auf und überlegte, ob sie noch ein Stück nehmen sollte.
    Alice überraschte sie und hielt dem nichts entgegen. »Ja«, seufzte sie. »Billy kannte noch den Wert guter Handwerkskunst. Mein Jack natürlich auch. Unser kleines Haus am Fluss wird noch stehen, wenn wir längst nicht mehr sind.«
    »Jetzt wirst du trübsinnig«, sagte Nell. Bindis Gerede über »Gesänge« und der abwesende Ausdruck in den Augen ihrer Freundin beunruhigten sie.
    Alice hatte ihre Bemerkung offenbar nicht gehört. »Weißt du noch, unser erster Streit über die Schafe?«
    Nell war sich nicht sicher, wohin das führen sollte. Diese erste Auseinandersetzung hatte nur wenige Minuten nach der Ankunft von Alice auf Moonrakers stattgefunden und ihnen nachhaltig vor Augen geführt, dass sie Frauen unterschiedlicher Herkunft waren. Die Feindseligkeit, die sie an jenem Tag füreinander empfunden hatten, hatte jahrelang angehalten. »Ich war ein Mordsweib, das steht fest«, erklärte sie zögernd.
    »Du warst damals ganz schön eingebildet«, überlegte Alice. »Und das bist du auch heute noch.« Ihre hellbraunen Augen zwinkerten, als Nell auffuhr. »Aber ich schätze, wir können es miteinander aufnehmen, und ich muss zugeben, ich habe deine Kabbeleien immer genossen.«
    Nell hob eine Augenbraue und strich Krümel von ihrem Busen. Die Augen ihres Gegenübers ließen noch immer die jüngere Alice erkennen, doch ihr Gesicht war nach den zahllosen Jahren in der gnadenlosen Sonne zerfurcht, die Hände waren knorrig, und ihre Magerkeit wurde von dem locker sitzenden Kleid nur noch betont. Das Alter und die Elemente der Natur hatten ihrübel mitgespielt. »Du wirst doch jetzt nicht nachsichtig mit mir, oder?«
    Alice schüttelte den Kopf, dass die gebundenen Bänder ihrer Strohhaube flatterten. »Ich denke nur gerade, es war ein Glück, dass wir uns hatten – und wie viel wir zusammen erreicht haben.« Sie deutete mit dem Kopf auf die fröhliche Kakophonie aus Geschnatter und Gelächter am anderen Ende des Tisches, wo Ruby selig auf dem Knie ihres Vetters Finn hockte und ihn bewundernd anschaute. »Danke, dass du deine Familie mit mir geteilt hast. Es wäre ein einsames Alter gewesen ohne eigene Kinder.«
    »Jetzt wirst du aber sentimental«, sagte Nell verärgert. Diese ungewöhnliche Zurschaustellung von Gefühlen störte sie. Schon wollte sie ihren Stuhl zurückstoßen, als Alice ihren Arm packte.
    »Du bist meine beste Freundin«, sagte sie leise. »Streite nicht mit mir, Nell, nur dieses eine Mal in deinem Leben!«
    Nell spürte einen Stich. Alice benahm sich höchst merkwürdig, und in ihrer Stimme lag eine gewisse Dringlichkeit, die sie seit Jahren nicht gehört hatte. Als wäre sie sich bewusst, dass die Zeit knapp wurde und sie Frieden schließen musste, bevor es zu spät war. Vielleicht war Bindis Aberglaube doch nicht so dumm, wie sie angenommen hatte?
    Der Gedanke, dass sie die Freundin verlieren könnte, war erschütternd. Sanft ergriff Nell die verkrüppelte Hand, denn sie wusste, wie sehr Alice unter Arthritis zu leiden hatte, auch wenn sie es sich nur selten anmerken ließ. »Ich weiß nicht, worum es hier eigentlich geht«, sagte sie leise. »Wir beide haben uns doch immer gestritten – das hat uns aufrecht gehalten. Glaub nur nicht,
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