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Vor Jahr und Tag

Titel: Vor Jahr und Tag
Autoren: Linda Howard
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    Washington D. C., 13. Februar
    Mit dem Paketband, das er gestern in einem Supermarkt gestohlen hatte, klebte Dexter Whitlaw die Schachtel sorgfältig an den Ecken zu. Auch einen schwarzen Marker hatte er bei der Gelegenheit mitgehen lassen, mit dem er nun die Adresse in deutlichen Druckbuchstaben auf das Päckchen schrieb. Marker und Paketband einfach auf dem Boden liegenlassend, ging er, das Päckchen unter den Arm geklemmt, zum nächsten Postamt. Es lag nur einen Block weit entfernt, und außerdem war das Wetter für Washingtoner Verhältnisse um diese Jahreszeit auch gar nicht so kalt, acht, neun Grad etwa.
    Wenn ich einer von diesen Kongreßheinis wäre, dachte er säuerlich, dann müßte ich kein verdammtes Porto bezahlen.
    Die bleiche Wintersonne beschien die Bürgersteige. Ernst dreinblickende Regierungsbeamte eilten mit wehenden grauen oder schwarzen Mänteln vorbei und kamen sich dabei äußerst wichtig vor. Wenn man sie nach ihrem Beruf fragte, sagten sie nie: »Ich bin Buchhalter« oder »Ich bin Abteilungssekretärin«, auch wenn sie genau das waren. Nein, in dieser Stadt, in der Status alles war, sagte man: »Ich arbeite im Innenministerium« oder »ich arbeite im Finanzministerium«; und wenn man richtig die Nase oben hatte, dann benutzte man Abkürzungen wie »DOD« und er wartete, daß jeder wußte, daß damit das Department of Defense, also das Verteidigungsministerium, gemeint war. Dexter war der Ansicht, daß diesen Leuten allesamt Aufkleber verpaßt gehörten mit der Aufschrift DOB, Department of Bullshit.
    Ach, die Landeshauptstadt! Der Geruch der Macht lag in der Luft, fast wie das Bouquet eines teuren Weins, und all diese Trottel waren ganz trunken davon. Dexter musterte sie mit einem kalten, distanzierten Blick. Die dachten, daß sie alles wüßten, aber in Wirklichkeit wußten sie gar nichts.
    Sie wußten nicht, was wirkliche Macht war, Macht in ihrer reinsten Form, gefiltert, destilliert. Der Mann im Weißen Haus konnte mit einem Wink einen Krieg anzetteln, er konnte mit der Bombe spielen, seine Aktentasche wurde ihm von einem Assistenten nachgetragen und wie dessen Augapfel gehütet. Er konnte den Befehl zum Bombenabwurf geben und Millionen Menschenleben auslöschen, doch würde er das Ganze mit der Gleichgültigkeit desjenigen betrachten, der weit entfernt vom Schauplatz ist. Dexter hatte die wahre Macht kennengelernt, damals in Vietnam, hatte sie in seinem Finger gefühlt, wenn er langsam am Abzugshebel zog. Tagelang hatte er seine Beute verfolgt, hatte regungslos im Schlamm oder zwischen Dornenbüschen gelegen, ohne Rücksicht auf Insekten oder Schlangen, auf Regen oder Hunger, immer wartend auf jenen perfekten Moment, in dem sein Ziel vor seinem Visier auftauchte und Dexter das Fadenkreuz genau dorthin richten konnte, wo er es haben wollte. Dann lag alle Macht bei ihm, er konnte Leben geben oder nehmen, konnte am Abzug ziehen oder es lassen, auf der ganzen Welt gab es dann nur noch zwei Menschen, ihn und sein Opfer.
    Der aufregendste Moment seines Lebens war an dem Tag gekommen, an dem ihn sein Sucher an eine gewisse
    Stelle im dichten Blattwerk eines Baumes lenkte. Als er jene Stelle anvisierte, sah er sich unversehens Auge in Auge mit einem anderen Scharfschützen, einem Russen, dem Aussehen nach zu schließen, der ebenfalls das Gewehr an die Schulter gelegt und ihn selbst ins Visier genommen hatte. Dexter war ihm um etwa eine Sekunde voraus gewesen und hatte seinen Schuß als erster abgefeuert. Eine Sekunde oder einen Herzschlag später, und der Russe wäre schneller gewesen, und dann würde der alte Dexter jetzt nicht hier im Sonnenschein von Washington D. C. Spazierengehen und die Aussicht bewundern.
    Er fragte sich, ob ihn der Russe wohl gesehen hatte, ob er einen Sekundenbruchteil lang gewußt hatte, wen oder was er vor sich hatte, bevor die Kugel ihm das Hirn zerfetzte und jeden Gedanken auslöschte. Keinesfalls konnte er die Kugel kommen gesehen haben, trotz all dem Unsinn und der Special Effects, die diese Typen aus Hollywood einem immer auftischten. Kein Mensch sah die Kugel kommen.
    Dexter betrat den wohlig warmen Raum des Postamts und stellte sich in der Schlange vor dem Schalter an. Er hatte sich die Mittagsstunde, also die belebteste Zeit des Tages ausgesucht, damit sich nicht doch womöglich einer der abgearbeiteten Schalterbeamten später an ihn erinnerte. Nicht, daß irgend etwas an ihm auffällig oder erinnernswert gewesen wäre, abgesehen von den kalten Augen.
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