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Das doppelte Lottchen

Das doppelte Lottchen

Titel: Das doppelte Lottchen
Autoren: Erich Kästner
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ERSTES KAPITEL

    Seebühl am Bühlsee – Kinderheime sind wie Bienenstöcke – Ein Autobus mit zwanzig Neuen – Locken und Zöpfe – Darf ein Kind dem andern die Nase abbeißen? – Der englische König und sein astrologischer Zwilling – Über die Schwierigkeit, Lachfältchen zu kriegen

    Kennt ihr eigentlich Seebühl? Das Gebirgsdorf Seebühl? Seebühl
    am Bühlsee? Nein? Nicht? Merkwürdig – keiner, den man fragt,
    kennt Seebühl! Womöglich gehört Seebühl am Bühlsee zu den
    Ortschaften, die ausgerechnet nur jene Leute kennen, die man nicht fragt? Wundern würde mich‘s nicht. So etwas gibt’s.
    Nun, wenn ihr Seebühl am Bühlsee nicht kennt, könnt ihr
    natürlich auch das Kinderheim in Seebühl am Bühlsee nicht kennen, das bekannte Ferienheim für kleine Mädchen. Schade. Aber es macht nichts. Kinderheime ähneln einander wie Vierpfundbrote oder
    Hundsveilchen. Wer eines kennt, kennt sie alle. Und wer an ihnen vorüberspaziert, könnte denken, es seien riesengroße Bienenstöcke.
    Es summt von Gelächter, Geschrei, Getuschel und Gekicher. Solche Ferienheime sind Bienenstöcke des Kinderglücks und Frohsinns.
    Und so viele es geben mag, wird es doch nie genug davon geben
    können.
    Freilich abends, da setzt sich zuweilen der graue Zwerg
    Heimweh an die Betten im Schlafsaal, zieht sein graues Rechenheft und den grauen Bleistift aus der Tasche und zählt ernsten Gesichts die Kindertränen ringsum zusammen, die geweinten und die
    ungeweinten.
    Aber am Morgen ist er, hast du nicht gesehen, verschwunden!
    Dann klappern die Milchtassen, dann plappern die kleinen Mäuler wieder um die Wette. Dann rennen wieder die Bademätze rudelweise in den kühlen, flaschengrünen See hinein, planschen, kreischen, jauchzen, krähen, schwimmen oder tun doch wenigstens, als
    schwömmen sie.
    So ist’s auch in Seebühl am Bühlsee, wo die Geschichte anfängt, die ich euch erzählen will. Eine etwas verzwickte Geschichte. Und ihr werdet manchmal höllisch aufpassen müssen, damit ihr alles
    haargenau und gründlich versteht. Zu Beginn geht es allerdings noch ganz gemütlich zu. Verwickelt wird’s erst in den späteren Kapiteln.
    Verwickelt und ziemlich spannend.
    Vorläufig baden sie alle im See, und am wildesten treibt es wie immer ein kleines neunjähriges Mädchen, das den Kopf voller
    Locken und Einfälle hat und Luise heißt, Luise Palffy. Aus Wien.

    Da ertönt vom Haus her ein Gongschlag. Noch einer und ein
    dritter. Die Kinder und die Helferinnen, die noch baden, klettern ans Ufer.
    »Der Gong gilt für alle!« ruft Fräulein Ulrike. »Sogar für Luise!«
    »Ich komm ja schon!« schreit Luise. »Ein alter Mann ist doch
    kein Schnellzug!«
    Und dann kommt sie tatsächlich.
    Fräulein Ulrike treibt ihre schnatternde Herde vollzählig in den Stall, ach nein, ins Haus. Zwölf Uhr, auf den Punkt, wird zu Mittag gegessen.
    Und dann wird neugierig auf den Nachmittag gelauert. Warum?
    Am Nachmittag werden zwanzig »Neue« erwartet. Zwanzig
    kleine Mädchen aus Süddeutschland. Werden ein paar Zieraffen
    dabeisein? Ein paar Klatschbasen? Womöglich uralte Damen von
    dreizehn oder gar vierzehn Jahren? Werden sie interessante
    Spielsachen mitbringen? Hoffentlich ist ein großer Gummiball
    darunter! Trudes Ball hat keine Luft mehr. Und Brigitte rückt ihren nicht heraus. Sie hat ihn im Schrank eingeschlossen. Ganz fest.
    Damit ihm nichts passiert. Das gibt’s auch.
    Nun, am Nachmittag stehen also Luise, Trude, Brigitte und die
    anderen Kinder an dem großen, weitgeöffneten eisernen Tor und
    warten gespannt auf den Autobus, der die Neuen von der nächsten Bahnstation abholen soll. Wenn der Zug pünktlich eingetroffen ist, müßten sie eigentlich…
    Da hupt es! »Sie kommen!« Der Omnibus rollt die Straße
    entlang, biegt vorsichtig in die Einfahrt und hält. Der Chauffeur steigt aus und hebt fleißig ein kleines Mädchen nach dem anderen aus dem Wagen. Doch nicht nur Mädchen, sondern auch Koffer und
    Taschen und Puppen und Körbe und Tüten und Stoffhunde und
    Roller und Schirmchen und Thermosflaschen und Regenmäntel und
    Rucksäcke und gerollte Wolldecken und Bilderbücher und
    Botanisiertrommeln und Schmetterlingsnetze, eine kunterbunte
    Fracht.
    Zum Schluß taucht, mit seinen Habseligkeiten, im Rahmen der
    Wagentür das zwanzigste kleine Mädchen auf. Ein ernst
    dreinschauendes Ding. Der Chauffeur streckt bereitwillig die Arme hoch.
    Die Kleine schüttelt den Kopf, daß beide Zöpfe schlenkern.
    »Danke, nein!« sagt
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